Ein Studienkamerad begleitet ihn. Von Bünde aus wandern sie nach Ebergötzen. Da will Wilhelm beim Schützenfest dabei sein. Er ist jetzt so alt wie Hannchen Lovis damals. Voriges Jahr hat er ihr ein Albumblatt zukommen lassen mit einem Spruch von Jean Paul:
… Nicht das bunte Ufer fliehet vorüber, sondern der Mensch und sein Strom; ewig blühen die Jahreszeiten des Lebens am Gestade hinauf und hinab, nur der Mensch fliehet einmal vorüber und kehret nicht wiederum.
In diesem Jahr, Wilhelm erfährt es in Ebergötzen, wird Hannchen den Herrn Adalbert Isermann heiraten.
Enttäuschung und Rückzug nach innen.
Hannchen war viel älter als er. Schon die Kinderfreundschaft zu Christine in Wiedensahl war für den Kaufmannssohn aus Gründen des sozialen Unterschieds fern jeder Verwirklichung. So etwas läuft immer nur in seinem Kopf ab, es bleibt bei schönen Träumereien.
In seiner Beziehung zu Mädchen und Frauen zeigt sich schon hier ein seltsames Muster, dem er bis auf eine einzige Ausnahme sein Leben lang verhaftet bleibt: Der junge Wilhelm Busch sucht die Beziehung zu älteren Frauen oder solchen, die schon in festen Beziehungen leben, der alte Wilhelm Busch wird sich besonders zu den jungen, lebensfreudigen Mädchen hingezogen fühlen. Immer bleiben Berührung und Nähe hinter einer unüberwindlichen Mauer im Reich des Wünschens und Wollens.
Dieser Stau der Gefühle lässt ihn im wirklichen Leben oft täppisch und unangemessen erscheinen. In seinen Bildergeschichten dagegen beflügelt er die Phantasie. Der Augenblick der schönen Illusion, das Gefühl, über den Dingen zu stehen: Man kann ihm umso mehr nachgeben, je ungebundener man ist. Er wird nie heiraten, er wird sich nie einer Idee verschreiben.
Im wirklichen Leben aber muss auch Wilhelm Busch seine Enttäuschung verwinden. Er wandert. Zu Fuß legt er Entfernungen zurück, die sich heute kaum jemand zumuten würde. Zusammen mit dem Studienfreund und mit Erich Bachmann geht es von Ebergötzen aus durch den Harz. Von dort nach Hannover. Und von Hannover mit Erich nach Wiedensahl.
Zum ersten Mal bringt Wilhelm jemanden mit in sein Elternhaus. Seinen ersten und gleichzeitig besten Freund. Das macht ihn stärker, nicht zuletzt gegen den Vater.
Kaum wieder in Hannover, wagt er den ersten Schritt seiner Privatrevolte. Er verlässt das Haus der Aufsicht führenden Verwandten und zieht in die Studentenbude zu seinem Studienfreund Carl Bornemann. Denn wer sich im Rauchen und Biertrinken übt, will einen eigenen Hausschlüssel haben .
Die Studentenromantik in Hannover währt nicht lange. Große Veränderungen sind in die Wege geleitet. In Wiedensahl hat er kein Wort gesagt.
August Klemme ist im Herbst 1850 in die »Stadt des Malkastens«, nach Düsseldorf gegangen, um an der dortigen Kunstakademie das Malen zu studieren. Carl Bornemann und Wilhelm Busch warten gespannt auf Nachricht von ihm.
Öfter als in Wiedensahl ist Wilhelm von Hannover aus in Lüthorst. Mit dem Onkel kann er reden. Mag sein, dass dieser ihn in seinem Eigenwillen bestärkt hat.
Am 9. März 1851 geschieht dann der große Ausbruch: Gegen den Willen seines Vaters verlässt Wilhelm Busch zusammen mit Carl Bornemann ohne Abschluss die Polytechnische Schule in Hannover, »um in Düsseldorf Maler zu werden«.
Adriaen Brouwer (1606-1618). Karten spielende Bauern in einer Schenke
In dieser kunstberühmten Stadt sah ich zum ersten Male die Werke alter Meister: Rubens, Brouwer; Teniers, Frans Hals. Ihre göttliche Leichtigkeit der Darstellung malerischer Einfälle, verbunden mit stofflich juwelenhaftem Reiz; diese Unbefangenheit eines guten Gewissens, welche nichts zu vertuschen braucht; diese Farbenmusik, worin man alle Stimmen klar durchhört, vom Grundbaß herauf haben für immer meine Liebe und Bewunderung gewonnen; und gern verzeih’ ich’s ihnen, daß sie mich zu sehr geduckt haben, als daß ich’s je recht gewagt hätte, mein Brot mit Malen zu verdienen wie manch anderer auch. Die Versuche freilich sind nicht ausgeblieben; denn geschafft muß werden, und selbst der Taschendieb geht täglich auf Arbeit aus …
Wilhelm Busch, Von mir über mich
Rote Kreise drehen sich, flimmern, lösen sich auf in warme Feuchtigkeit, bilden sich als Wellen neu, durchlaufen seinen Körper von unten nach oben, lassen ihn frösteln und treiben ihm Schweißperlen über die Stirn.
Die Sonne kann es nicht sein. Die Sonne hat sich kaum blicken lassen in diesen Tagen. Es ist Ende März 1853, der Himmel über Antwerpen ist verhangen, er sieht immer denselben Ausschnitt aus dem Fensterkreuz, milchgrau und unbewegt, selten mit ein, zwei Vogelpunkten, die sich schnell seinem Blickfeld entziehen. Stillstand seit Tagen. Er ist gefangen wie ein Vogel im Käfig. Das schneeweiße Federbett, die kleine Kammer, die Waschkommode, rissige Dielenbretter, die Petroleumlampe auf dem Nachttisch, der muffige Geruch, und der Blick wandert an den Deckenbalken entlang, immer dieselben Linien hin und her.
Heute Nacht, mitten in einem seiner Fieberträume, ist ihm auf einmal sein früher Tod nur logisch und konsequent erschienen. Die Hoffnungen, mit denen er nach Düsseldorf gegangen ist, liegen weit zurück. Er ist ein Versager. Den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen. Nichts bringt er zu Ende.
Leichtfertig hat er hingeworfen, wofür sie ihn bestimmt hatten. Hochmütig ist er seinen eigenen Wünschen gefolgt. Seinen eigenen Wünschen? Zweimal ist er dem August Klemme hinterher, erst nach Düsseldorf, dann nach Antwerpen. Maler wollte er werden. War das nicht noch anmaßender als Justus Ebhardts Seemannsträume? Auch Justus war in Antwerpen gelandet. Der Maler und der Seemann. Vereint als Strandgut hochfahrender Hoffnungen. Was hat er bloß gedacht? Hat er geglaubt, sie haben hier auf ihn gewartet, hier draußen in der großen Welt? Auf ihn, auf Wilhelm Busch, den Dorfjungen aus Wiedensahl?
Fast in jeder Nacht kommen sie wieder und verhöhnen ihn, die Spukgestalten, die edelschmächtigen weißen Gipsfiguren aus dem Antikensaal in Düsseldorf, wollen, dass er immer wieder und immer wieder von vorn ihre Rundungen und jenseitigen Blicke aufs Papier bringt. Ein Flüstern und Kichern erhebt sich. Hermes, der Götterbote, wirft sein weites Gewand über die Schulter, die klassisch schönen Gesichter verziehen sich zu gemeinem Grinsen, unzählige Arme strecken sich aus, unzählige Finger zeigen auf ihn. Wilhelms Zeichenstift fegt mit irrwitziger Geschwindigkeit übers Papier, als könne er den Aufstand der idealistischen Gipsköpfe nur durch rasendes Nachzeichnen bannen. Sie jagen ihn kreuz und quer durch den Saal und Wilhelm zeichnet wie besessen.
Unter die antiken Modelle haben sich jetzt auch Carl Friedrich Sohn, der Lehrer der Vorbereitungsklasse, und Wilhelm von Schadow, der Akademiedirektor, gemischt. »Kopieren, kopieren und nochmals kopieren!«, schreit Carl Friedrich Sohn, und von Wilhelm von Schadow, der im Nebel verschwindet, hallt es herüber: »Heilig! Klassisch! Historisch!« Sie jagen ihn bis auf die Straße hinaus, und ihr Johlen unterscheidet sich jetzt durch nichts mehr von dem der Hütekinder in Wiedensahl oder der Dorfjugend bei der Kirmesrauferei in Ebergötzen. Aber die Straße ist nun nicht mehr die Straße in Düsseldorf, der Lärm nähert sich dem Haus Pont au fromage Nr. 320 in Antwerpen, und Wilhelm hält sich die Ohren zu, er will das Spottgelächter nicht hören, aber sein Wehren ist zwecklos, der Lärm kommt von innen.
Irgendwo im Haus poltert es. Das Geräusch kommt näher. Die Tür geht auf. Im Schein der Kerze huschen zwei Gestalten in sein Zimmer. Er erkennt sie und seufzt erleichtert. Es sind seine Wirtsleute Jan und Mie Timmermans, sorgenvolle, gütige Menschen. Er, hager, mit Nachtmütze und Schlappen, sie, mollig, zwanzig Jahre älter als ihr Mann, im Nachthemd mit Spitzenkragen. Gemeinsam betreiben sie das Barbiergeschäft an der Käsbrücke, Sammelstelle für alltägliche Freuden und Sorgen.
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