Soweit der gesicherte Teilabschnitt meiner Reise.
Mit und ohne Berührungsängste
Der kleine Innenhof ist von drei notdürftig geweißten Gebäudeflügeln eingefasst, darauf prangen die Zimmereingangstüren, in Eigenregie bunt bemalt, mit je einem Fensterchen zur Seite. Visà-vis der Einfahrt führt eine steile, hölzerne Freitreppe geradlinig auf die Dachterrasse des ebenerdigen Hauses, wo ein von der Sonne zermürbter, bleicher Sonnenschirm eine Garnitur hölzerner Sesselchen und ein Plastiktischchen verbirgt. Die Zimmer selbst sind zweckmäßig und nach westlichen Mindestanforderungen eingerichtet; ein mit Kissen und Decken aufgedonnertes Bett, ein Kasten und ein Tisch, darauf die eigentliche Mindestanforderung, ein Fernseher. Ein kleiner Garten inmitten des Innenhofs ist im Werden, ein Wasserfall in Projektstadium, auf einer Hausmauer räkelt sich ansatzweise spärliches Grün – ein Land, eine Familie im Aufbruch. Ganz so wie ich am nächsten Tag. Hoffentlich.
Ich werde überschwänglich empfangen; ab dem Moment weiß ich, wie sich kirgisisches Familienleben anfühlt, und dass man ihm nur schwer entrinnen kann. Aber danach ist mir im Moment gar nicht, denn von der Tochter Jasina und ihrer dicken, stets freundlich lächelnden Mutter lasse ich mich gerne vereinnahmen. Jasinas Bruder Faris und ihr Onkel, das war der Nachtportier, scheinen von woanders entsannt, sie wirken ernst und ein wenig abweisend. Allesamt sind sie Moslems. Mein erster Eindruck wird sich im Laufe der Reise immer mehr vertiefen: Die Männer „genießen“ alle Rechte (tun sie’s wirklich?), scheinen damit aber nicht ganz zufrieden, sie wirken weniger glücklich als die Frauen. Am Ende schlummert in ihnen doch ein Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit, dessen Unterjochung unglücklich machen oder gar unter Druck setzen kann, und so hinken sie ihrer eigenen Glücksfähigkeit hinterher. Aber vielleicht ist es auch nur der Wodka, der den Männern das Gemüt verpantscht. Offenbar glaubt man hier in den muslimischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion so manchem Druck durch reichliche Alkoholgaben ein Ventil verschaffen zu können. Ist das letztlich nicht heilsamer als in den alko-feindlichen, muslimischen Hardliner-Staaten, wo man sich, um Dampf abzulassen, anstatt alkoholischen lieber radikalen Ergüssen hingibt? Jedenfalls sind die Frauen hier sehr tüchtig, die Männer wären ohne sie weniger als die Hälfte, von einer besseren ganz zu schweigen; und womöglich ahnen sie das auch noch …
Die Familie gehört der Volksgruppe der Tataren an. Ehemals wurde die zentralasiatische Region ständig von irgendwelchen Eindringlingen überrannt, anfangs von Alexander dem Großen, dann einmal von Dschingis Khan – als Beispiel für die Prominenten. Und einer der letzten Großgrundbesitzer war Stalin; der kam, sah und siebte, siebte aus nämlich, und zwar andersstämmige Völker, die er aus dem Sowjet-Stammterritorium über den eigenen Tellerrand (über den er so ungern hinaussehen wollte), an den Tellerrand des Reiches deportierte, wo man zuvor, getrieben von Macht, Angst und Willkür, die Umrisse des heutigen Kirgistan gestanzt hatte, um ein wenig Pseudo-Autonomie zu gewähren. An dem ewigen Kommen und Gehen wie in einem orientalischen Lusthaus beteiligten sich eine Reihe von Völkern, ob geblieben oder vertrieben, so auch die Tataren – als Beispiel für die Gebliebenen.
Jasina ist neunzehn Jahre, eher klein, hat schwarzes Haar, große, braune Augen – sie sind von Beginn an geöffnet – mit konkurrenzlos langen Wimpern. Die frühe Morgenstunde macht uns beiden zu schaffen, und obwohl sich die Sonne noch nicht einmal über den Horizont reckt, geht sie für mich in Gestalt dieses kirgisischen Mädchens auf. Womöglich ist sie es nicht gewohnt, dass ihr Lächeln von einem Mann erwidert wird, und schon gar nicht, dass ihr dabei zuvorgekommen wird. Wir lachen uns nur an und lassen die Sonne im Zenit erstrahlen. Die Zeit dreht längst keine Runden mehr. Jasina wird zur wichtigsten Bezugsperson für mich, nicht nur weil sie der Welt (und mir) mit offenen Augen begegnet, sondern weil sie die Einzige ist, die englisch spricht. Die Familie redet russisch miteinander, die Jungen können gar kein vernünftiges Kirgisisch mehr, die Großmutter versucht es trotzdem beharrlich mit ihnen.
„Ich bin ein glückliches Mädchen“, sagt Jasina und strahlt das tatsächlich aus. Sie ist sehr fleißig und andauernd bemüht, Anweisungen ihrer Mutter und ihres Onkels zu befolgen, ohne dass auch nur der geringste Widerspruchsgeist auflodert. Hoffentlich hat sie die Pubertät nicht ausgelassen. Ich meine, ein Hoch den Flegeljahren! Da sollte jeder durch. Rechtzeitig. Späteres Nachholen ist immer verzwickt und problematisch und hat etwas Aufgehoben-Aufgeschobenes wie ein lahmender Nachsendeauftrag der Post; oder Abendmatura.
Der Onkel weist mit seinem Zeigefinger ins Hausinnere, zeigt sodann auf den Hof, vollführt ein paar heftige Wedelbewegungen, und Anisa fegt den Fußboden. Der Onkel schickt wieder den Zeigefinger auf Reisen, nimmt den Daumen dazu, führt damit eine imaginäre Schale zum Mund, und Anisa bringt Tee.
Sie wirkt jedenfalls glücklich bei ihrer Arbeit, mit Dienen scheint sie kein Problem zu haben, zumal sie beherzt zur Sache geht. Bei uns ist „Dienen“ ja bedenklich außer Mode gekommen, es wird nur mehr im Sinne von ‚Bedienen‘ rein abwertend gebraucht, und noch schlimmer kommt es weg, wenn jemand gar „bedient ist“. Dabei wird Dienen wohl der ergänzende Gegenpol zur Verwirklichung des eigenen Selbst sein, soll es nicht völlig in Selbstsucht versanden. Aber mit dem Dienen verhält es sich so wie mit dem Koitus. Es funktioniert nur, wenn beide Seiten es wollen und nicht nur einer es macht.
Gemeinsam mit Medina, Jasinas Freundin – sie fungiert als von der besorgten Familie entsandte Aufpasserin –, machen wir einen Spaziergang ins Stadtzentrum. Es befindet sich nicht gerade um die Ecke, protzt ein bisschen und gibt deutlich zu verstehen, dass es mit dem umliegenden Areal wenig im Sinn hat. Diesseits nun, ein paar stattliche Bauten, Museen, Plätze, viele Parks, Boulevards, Cafés, manch modernes Geschäft; jenseits, unweit davon, nicht sonderlich herausgeputzte, einstöckige Häuser, umgeben von bescheidenen Grünanlagen, Wohnblöcken, verbunden auf Straßen mit schlaglöchrigem Schotterbelag. Kurios dabei eine Straße, in der sich zahlreiche Autowäscher aneinanderreihen. Jedes vorbei fahrende Auto wird herangewinkt, die Konkurrenz ist groß, der Bedarf auch, man fragt sich, wo die Stadt all die auffahrenden Mercedes´ und Audis sonst unter Verschluss hält. Gibt es gerade keine Kundschaft, vertreibt man sich die Zeit mit ausufernden Wasserschlachten, die bieten sich förmlich an, man arbeitet händisch, nur mit Schwamm und Wassereimer. Am Gefecht beteiligt ist die ganze Familie. Und unfreiwillig so manche Passanten, so wie wir; nur mit Mühe schlängeln wir uns durch die Fronten, pudelnasse Kinder grinsen uns an, lassen das Wasser in ihren Eimern bis an die Ränder schwappen – und darüber hinaus – und täuschen einen Angriff auf uns vor. Ich vermeide jegliche Reaktion, die mir als Einladung zum Mitspielen ausgelegt werden könnte. Einfach da durch.
Die Fußgängerunterführungen erinnern in Aussehen und Bedrohlichkeit an Moskaus Passagen. Fugenlos bis in die letzte, finstere Nische sind mit allerhand Kleinkram belegte Verkaufsstände aneinandergekleistert; dazwischen eingeklemmt, einzelne Personen, so viel sie am Körper zu tragen und halten imstande sind, bieten sie zum Verkauf an. Gebrauchte Magazine und Bücher, T-Shirts, Army-Kappen, Hosenträger, Knöpfe für Hemd und Hose, Brillenfassungen, Zahnbürsten, Feuerzeuge erwecken den Anschein, schon mehrmals den Besitzer gewechselt zu haben, ehe sie hier herunten auf ein Weiteres verhökert werden. Auffallend durchsetzt ist die Unterweltszenerie von ganz – bis nicht mehr so – jungen Männern, die außer Leute-wie-mich-Anstarren nichts Augenfälliges zu tun haben. Auf diesem ersten Stadtspaziergang wird mir nicht gerade zutraulich ums Herz, wären da nicht meine beiden 19-jährigen Mädels, die mich beiderseitig eskortieren und auf diese Weise, wie sie behaupten, potentielle Diebe von mir fernhalten. Das gibt rein optisch ein rührendes Bild ab.
Читать дальше