„Aber sind denn beide Eltern gleichzeitig gestorben“, frage ich ungläubig.
„Nein, natürlich nicht, meine Mutter erst vor ein paar Jahren.“
Also fangen wir ganz von vorn an. Er muss einen Erbschein beantragen, ansonsten ist eine Eintragung ins Grundbuch unmöglich. Eine Woche später bin ich wieder bei ihm. Er ist völlig am Boden zerstört. Ein Gericht müsse nun erst mal entscheiden, denn das Testament sei ungültig, weil beide ja nicht zum gleichen Zeitpunkt gestorben seien.
Sachen gibt’s!
Meine nächsten „Klienten“ wohnen in einer kleinen engen Gasse mit eingeschossigen Gebäuden, Haus an Haus wie meistens in einer Altstadt. Alle Häuser haben nach Süden einen kleinen schmalen Garten, den man vom Stadtgraben aus auch über einen Weg erreichen kann.
In den 1970ern schafften sich die Leute Autos an und wollten diese auch irgendwie unterstellen. Wer Land hatte, baute sich eine Garage. Andere pachteten diese mitunter weit von der eigenen Wohnung entfernt.
Hier nun war in den meisten Fällen Land vorhanden, aber die Grundstücke waren und sind viel zu schmal. Das erweist sich bis heute als manchmal unlösbares Problem.
Als ich am späten Nachmittag bei einer Familie klingele, öffnet mir eine freundliche adrette Frau. Sie und ihr Mann sind beide bereits Altersrentner, Mitte sechzig, sehen aber jünger aus. Und siehe da, der Schein trügt nicht. Sie erzählt mir, dass sie noch stundenweise in einer Boutique arbeite und er ebenfalls noch tätig sei, im hiesigen Spaßbad. Hier bei den beiden „Jüngeraussehenden“ werde ich seit Langem auch wieder einmal zum Kaffeetrinken „genötigt“. Na gut, es ist halb vier Uhr nachmittags und es ist frischer Kuchen aufgetischt. Außerdem haben beide ein kniffliges Anliegen, bei dem ich ihnen helfen soll. So schnell komme ich hier nicht wieder heraus, also kann ich mir auch mal ein „Käffchen“ genehmigen.
Beide haben zu DDR-Zeiten das Grundstück ihrer Nachbarin erworben, einer älteren Dame, die ins Pflegeheim kam. Grund des Erwerbs war insbesondere, einen breiteren Garten zu bekommen, um Platz zu gewinnen für den Bau einer Garage. Denn ihr eigenes Grundstück war keine drei Meter breit. Ich erfahre, dass man damals zwar ein Grundstück erben, aber kein zweites kaufen konnte, wenn man schon Grundbesitzer war. Also wurde alles über den damals gerade erwachsen gewordenen Sohn abgewickelt. Nun hatte man zwei Häuser und einen größeren, jetzt fünf Meter breiten Garten, in dem dann die Garage gebaut wurde.
Der Sohn, der eigentlich in das zweite Haus einziehen sollte, hatte nach der Wende große Pläne und brauchte Geld. Ohne sich weiter mit seinen Eltern abzustimmen, fand er einen Käufer für das Haus, sackte das Geld ein und war weg. Alle waren bis vor kurzem der Meinung, sie hätten seinerzeit nur das Haus verkauft, zumal der neue Besitzer keinerlei Anspruch auf das Grundstück dahinter geltend machte. Mit der Vermessung zum jetzigen Zeitpunkt stellte sich heraus, dass der Kaufvertrag natürlich auf den kompletten Anteil am ungetrennten (unvermessenen) Hofraum bezogen war und damit nun Jahre nach dem Verkauf ein schwerer Konflikt entstanden ist.
Um es kurz zu machen, die fehlende Kommunikation innerhalb der Familie hat die „Jüngeraussehenden“ um einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens gebracht, denn nicht nur Grund und Boden, sondern auch die darauf errichtete Garage mussten nach der Vermessung entschädigungslos an den Nachbarn abgetreten werden.
Wie aber kam es, dass es fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit noch unvermessene Grundstücke gab? Diese Erscheinung war eine Folge der preußischen Grundsteuerreform von 1861. Die für die damals vorgesehene Besteuerung in einigen Gegenden nötige Vermessung der Grundstücke, u. a. in den von 1815 bis 1952 zeitweise zu Preußen gehörigen sächsischen Landesteilen, konnte nicht im erforderlichen Tempo durchgeführt werden. Also verzichtete man darauf und ließ als amtliches Verzeichnis im Sinne der Grundbuchordnung das damalige Gebäudesteuerbuch zu. Betroffen von diesem Problem waren nicht nur kleine Dörfer, sondern oft auch ganze Innenstädte. Ohne dem Leser weitere Details aufzunötigen, nur noch so viel: Im Liegenschaftskataster waren solche Flächen nicht erfasst. Das Grundbuch sagte demzufolge auch nichts über die genaue Lage und Größe der Teilflächen aus, sondern führte sie nur als "Anteil an einem ungetrennten Hofraum". Nach der Wende stellte man schnell fest, dass Grundbesitz, der im Grundbuch nur als Anteil am ungetrennten Hofraum mit Angabe der Flur- und Hausnummer eingetragen ist, kein Grundstück im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches sein kann und versuchte Abhilfe zu schaffen. Die Vermessung wurde also erst 150 Jahre nach der preußischen Grundsteuerreform vorgenommen.
Gut Ding will Weile haben …
An einem verregneten Tag. Düstere Wolken hängen über dem kleinen Dorf. Kalt ist es außerdem. Eine Stimmung zum Davonlaufen.
Zum Glück treffe ich auf jemanden, der ein wenig Zeit mitgebracht hat und erzählt, dass er sein Anwesen erst 2003 nach dem Tod der bis dahin hier lebenden Großeltern bezogen hat. Er arbeitet im eigenen Autohaus, Reparaturwerkstatt für Renault. „Die richtige Marke, um immer genügend Reparaturen zu haben“, sagt er lachend. Seine Frau ist zu Hause wegen der Kinder. Noch zu Lebzeiten der Großeltern wurde das Wohngebäude von außen saniert (Dach, Fassade, Fenster). Zwei der gut erhaltenen alten Fenster hat er in ein Seitengebäude eingebaut, um dort die maroden Fenster zu ersetzen. Einige Wochen danach flatterte ein Brief vom Denkmalsschutz mit Androhung einer Strafe von einer Viertelmillion Euro ins Haus. Was für ein Schock! Da erst erfuhr die Familie, dass ihr Vierseitenhof in die Denkmalliste aufgenommen worden war.
Er meint, abreißen und neu bauen wäre auf lange Sicht sinnvoller, aber das dürfe man eben nicht. „Nur erhalten kann man die drei Wirtschaftsseiten mit einstigen Stallungen und Scheunen eben auch kaum. Das sind Riesengebäude, die keiner mehr nutzt. Das mit der Strafe haben wir zum Glück aus der Welt schaffen können. Und vor Jahren ist meinem Nachbarn, einem Wessi, der Giebel seiner Scheune zusammengerutscht und hat bei mir das halbe Dach meiner Stallungen zerstört. Der Wessi wohnt nicht im Ort, hat aber mehrere Grundstücke aufgekauft und lässt sie verfallen. Der war so was von unseriös, hat am Telefon erst mal unterstellt, dass wir wohl einen Dummen suchen, um unser Dach neu eindecken zu lassen. Dann hat er Sachverständige von verschiedenen Versicherungen antanzen lassen, die, wie sich herausstellte, alle jedoch andere Objekte versichert hatten. Die merkten das aber erst, als sie die Adressen verglichen. Erst, als ich mir einen Anwalt genommen habe, war die eigentliche Versicherung schnell ermittelt und so ist die Reparatur dann auch bezahlt worden. Bei den Wessis braucht man eben immer einen Anwalt.“
Bei einem Blick in das Grundbuch sehe ich, dass ein Enteignungsverfahren gegen ihn läuft, angestrengt durch das Autobahnamt, weil die neue Autobahn über einige seiner Ländereien führt.
„Ja, wir haben damals nichts unterschrieben, uns einen Anwalt genommen. Mit der Enteignung bekommen wir nun auch noch ein paar Cent mehr pro Quadratmeter als seinerzeit angeboten.“
Man braucht eben für alles einen Anwalt.
Als ich nach Ostern einen Termin machen will, habe ich die alte Frau am Telefon, mit der ich mich im Ort schon mehrfach nett unterhalten hatte. Sie ist völlig aufgelöst, ihr Sohn ist Karfreitag überraschend verstorben. Schlaganfall mit 46 Jahren. Zunächst bin ich sprachlos, vereinbare mit ihr dann aber, mich später noch einmal zu melden.
Vom Nachbarn erfahre ich, dass der inzwischen Verstorbene hier im Ort eine junge Frau und drei Kinder hinterlassen hat. Sie waren allerdings schon geraume Zeit geschieden. Da gibt es noch eine Freundin und drei weitere Kinder. Die Nachkommen haben ebenfalls schon einige Kinder, die alte Frau letztendlich sechs Enkel und sieben Urenkel. Nun ist der einzige Sohn tot, mit 46 Jahren.
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