Tatsächlich ging der Torus auf das Sinesische Imperium zurück. Sein Baubeginn lag einige Jahre vor der großen Schlacht. Auf halber Strecke zwischen Sina und unserem Sonnensystem gelegen, dokumentierte er die Ausdehnungsbestrebungen des Imperiums in die westlichen Quadranten unserer Galaxis. Der Eroberungs- und Annexionszug der Sineser hatte zu einer Überdehnung ihres Reiches auf der uns zugewandten Flanke geführt. Offenbar hatte man in Sina City das Bedürfnis empfunden, eine zweite große Basis außerhalb der Heimatwelt zu errichten, um die Feldzüge und die ihnen folgenden Eingliederungen besser koordinieren zu können. Es war ein vorgeschobenes Glacis, ein Advanced Base Camp,. Ein fester Platz im Kampf um die Herrschaft über die Galaxie. Wir konnten von Glück sagen, dass wir den Kampf gesucht und für uns entschieden hatten, ehe diese Station vollendet worden war. Würde dieses interstellare Fort bewaffnet, ausgerüstet und bemannt gewesen sein, hätte es als unüberwindlicher Sperrriegel zwischen unserer Flotte und Sina gelegen. Unser wagemutiger Plan mit seiner weiträumigen strategischen Zangenbewegung, die der historischen Schlacht von Gaugamela nachempfunden war, wäre unmöglich zu realisieren gewesen. Wir wären geschlagen worden, versklavt, womöglich ausgerottet.
Damals wussten wir aber noch nicht, was hier im Entstehen begriffen war. Unsere Routinescans hatten den Bauplatz zwar erfasst. In den zuständigen Büros auf Luna II rätselte man noch darüber, ob es sich um ein natürliches Objekt oder um ein Artefakt handele. Und falls Letzteres: ob es eine gewöhnliche Raumstation oder eine Werft werden würde. Natürlich ahnte man, dass die Sineser dahinter steckten. Aber man verspürte wenig Lust, sich näher damit abzugeben.
Das Objekt ruhte unter dem Kürzel 31/439 in den Archiven. Die Mondbasen existierten nicht mehr. Ebenso wenig das Sinesische Imperium.
Aber es existierten die Baupläne des Torus. Wie bei allen anderen Großvorhaben der Sineser zeichneten auch hier die Tloxi als Techniker und Ingenieure verantwortlich. Und die Konstruktionszeichnungen schlummerten in ihrem telepathischen Kontinuum. Es lag nahe, das Vorhaben wieder aufzunehmen und zum Abschluss zu bringen. Die Tloxi, für die die »Funktion« eines Bauwerks nicht existierte, machten sich wieder an die Arbeit, und mittlerweile war die gewaltige Station so gut wie vollendet. Wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass einige Verbindungsglieder fehlten. Kraftfelder überbrückten dort den mechanischen Zusammenhang. Und die Segmente XVII bis XX waren bisher lediglich im Rohbau ausgeführt. Die knollenförmigen Verdickungen beherbergten dort zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich riesige leere Hohlräume. Aber zu vier Fünfteln war der Torus fertig. Hatte er einst die Westexpansion des Sinesischen Imperiums demonstrieren und unterstützen sollen, stand er nun für die Ostausdehnung der Union. Aber es gab einige gravierende Unterschiede. Das Sinesische Imperium war ein militaristisches und aggressives, nach innen wie außen extrem brutal auftretendes Großreich gewesen, das Dutzende Völker versklavt und ausgebeutet hatte und das die selbst ernannte Herrenrasse der Sineser zu despotischen Fürsten der Galaxis hatte machen sollen. Die Union dagegen war ein freier Zusammenschluss gleichberechtigter Nationen, die gemeinsamen den friedlichen Aufbau einer galaktischen Zivilisation in Angriff nehmen wollten.
Das schlug sich auch im rechtlichen Status nieder. Der Torus stand unter kommissarischer Verwaltung eines Konsortiums, dem Vertreter aller Völker und Kulturen angehörten, die wir aus der Knechtschaft Sinas befreit hatten. Er sollte – das Kleingedruckte zu regeln, war eine der Aufgaben des Kongresses – als freier Platz ausgewiesen werden, in dem die Union nur als einer von zahlreichen Partnern auftrat und in dem jede Delegation diplomatische Immunität genoss.
Ähnlich den Baustellen der MARQUIS DE LAPLACEs II und III wurde auch der halbfertige Torus von ganzen Flotten von Serviceschiffen und KI-Droiden, Shuttles und Scootern, Cargodrohnen und fliegenden Tloxi umschwärmt. Sein riesiges Rad glich einer goldglänzenden Felge, die in das flache Wasser eines tropischen Ozeans gesunken war und von dem aufgewirbelten Sand umglitzert wurde. Allerdings waren die Baumaßnahmen für die Dauer des Kongresses eingestellt wurden. In dem Maße, in dem die Flugaktivität im Vorfeld der galaktischen Zusammenkunft zunahm, fuhr man die Konstruktionstätigkeit und die Anlieferung von Material zurück. Die Shuttledienste zwischen den Schiffen der Delegationen und dem Torus benötigten den ganzen Raum. Ihn gleichzeitig mit der Bautätigkeit zu überwachen, überforderte anscheinend selbst die Metaintelligenz des Tloxi-Kontinuums. Das war tröstlichAllmächtige Götter waren sie nicht.
Eine Stunde später hatten wir uns so akklimatisiert. Die Bordautomatik der MARQUIS DE LAPLACE war online auf das Tloxi-Kontinuum geschaltet, das den Torus steuerte. In einer ständigen Nachführbewegung wurde das Schiff auf seiner festen Position, relativ zu der großen Ringkonstruktion gehalten. Die Stationen waren zu ihrem Routinebetrieb zurückgekehrt, der zu 99 % der nämliche blieb, ob wir nun im Neptunorbit lagen, im Großen Korridor, im Eschata-Nebel oder hier. Die Politiker hatten ein letztes Mal die Köpfe zusammengesteckt und ihre Taktiken abgesprochen. Es konnte losgehen.
Ursprünglich war geplant gewesen, dass Jennifer die Delegation begleiten werde. In ihrer Funktion als Kommandantin der ENTHYMESIS-Flotte schien sie sich für eskortierende Aufgaben in besonderer Weise zuständig zu fühlen. Mir als Kommandanten wäre es angestanden, auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE zu bleiben. Aber ich war noch immer verstimmt über die Heimlichtuerei, mit der man in den zurückliegenden Wochen eine Delegation nach der anderen hinter meinem Rücken empfangen hatte, dass ich beschloss, mich nicht noch einmal derart ausbooten zu lassen. Es waren Friedenszeiten. Wir befanden uns in unserem eigenen Hoheitsgebiet. Und selbst wenn etwas vorfallen sollte, konnte ich in wenigen Augenblicken vom Torus zum Mutterschiff zurückkehren. Ich entschied, dass ich die Delegation begleiten würde. Das Kommando übergab ich an die nachgeordneten Stabsoffiziere. Dann fand ich mich in der Schleusenkammer ein, wo Jennifer, Rogers und die anderen sich für den Shuttleflug fertig machten.
Commodora Jennifer Ash steuerte das kleine Shuttle selbst. Aus diesem winzigen Gefährt heraus wirkte die Konstruktion des Torus noch viel gewaltiger. Schließlich entzog sie sich unseren Blicken. Der Leitstrahl des Tloxi-Kontinuums brachte uns zu einer Andockstation in Segment XII des Torus, den man auch mit einem Zifferblatt hätte vergleichen können, dem Zifferblatt einer 20-Stunden-Uhr allerdings.
Als wir aus dem Schleusenbereich kamen, trat uns ein hagerer Mann mit asketischen Gesichtszügen entgegen. Sein Haar und sein kurz geschorener Bart waren angegraut. Aber seine Augen funkelten unternehmungslustig wie eh und je.
Jennifer warf sich ihm entgegen und schloss ihn lange in die Arme. Er ließ es eine Weile geschehen. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sie skeptisch.
»Warum hast du dein Haar abgeschnitten?«
Sie warf mir einen triumphierenden Seitenblick zu.
»Frank hat eine halbe Stunde gebraucht, bis er es gemerkt hat.«
Ich hob die Schultern. Dann begrüßte er auch mich mit einem harten Händedruck.
»Es steht dir gut«, sagte er noch zu Jennifer.
Wie lange hatten wir uns nicht gesehen! Direktor Reynolds, wie er als Aufseher der Kolonien im Eschata-Raum offiziell zu titulieren war, strahlte wie ein kleiner Junge, auch wenn das spitze Kinn und die kantigen Wangenknochen signalisierten, dass auch an ihm die Ereignisse der jüngsten Zeit nicht spurlos vorbeigegangen waren.
Mein früherer WO auf der ENTHYMESIS war in den schweren Jahren der Diaspora auf jenen abgelegenen Welten des Eschata-Nebels zurückgeblieben, um sich der Entwicklung neuartiger Warpspulen zu widmen. Seine Entschlüsselung des Geheimnisses der Dunklen Materie hatte wesentlich zu unserem Triumph über Sina beigetragen. Jetzt stieß er wieder zu uns, um die Leitung der Planetarischen Abteilung auf der MARQUIS DE LAPLACE zu übernehmen. Er würde damit in die Fußstapfen Dr. Rogers’ treten, der als Hoher Rat in das neu zu schaffende höchste Gremium der Union wechselte.
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