Und dann lag nur noch das Sternenfeld vor uns. Die neuartige Technologie, die die Tloxi der MARQUIS DE LAPLACE verpasst hatten, machte es möglich, stufenlos von Kleiner Fahrt bei konventionellem Antrieb zu beschleunigen, bei Großer Fahrt auf den oszillierenden Warpbetrieb zu wechseln und dessen Frequenz seinerseits zu steigern, bis er einen über Tausende von Lichtjahren pro Sekunde hinwegtragen würde. Dann würde man in den Korridoren zwischen den Galaxien dahingleiten können wie auf einer Segelyacht zwischen den Inseln eines Archipels.
So weit ging unser Ehrgeiz heute nicht. Wir beschränkten uns auf unsere Milchstraße, von der wir kaum den halben Radius durchmaßen. Dennoch war es erhebend: Anders als beim klassischen Warp, bei dem man die gesamte Entfernung in einem einzigen Sprung überbrückte oder besser gesagt: durchtunnelte, eilte man beim oszillierenden Warp in einer raschen Abfolge kleiner Sprünge dahin wie ein Stein, den man flach übers Wasser schlenzt. Absolute Geschwindigkeit und Reichweite waren höher, der Energieverbrauch dagegen geringer. Und anders als beim herkömmlichen Warp, bei dem das Panorama verschwand und man für einige Augenblicke in schwindelndes Nichts hinausstarrte, blieb die Aussicht erhalten. Die Sterne, die noch unseren Eltern als fix gegolten hatten, rückten langsam von ihren Plätzen, setzten sich gemächlich in Bewegung, bis wir sie schließlich in rasendem Flug vorübereilen sahen.
Es war, wie wenn man aus dem Zimmer tritt, den Hausflur durchmisst, die Tür öffnet und auf die Straße geht – und dann plötzlich mit Düsenantrieb die Stadt hinter sich lässt und bei mehrfachem Überschall den ganzen Kontinent überquert.
Jennifer hatte keinen besonders hohen Oszillationstakt programmiert. Auch sie wollte den Trip genießen. Ohnehin dauerte es nur ein paar Augenblicke. Wir erreichten, was von der Erde aus das Sternbild Horus bildete, was im Raum selbst aber ein in der dritten Dimension weit auseinandergezerrtes Triangulum war. Ein Stern kristallisierte sich heraus. Indem er näher rückte und sonnenförmig wurde, unterschritt die Triebwerkstätigkeit schon wieder die Warpschwelle. Bei konventionellem Antrieb bogen wir in ein Doppelsystem ein. Die Feldgeneratoren verlangsamten uns weiter. Eine Struktur tauchte vor uns auf, die schon als Artefakt zu erkennen war, kaum dass sie mehr war als ein Punkt, der die Auflösung des menschlichen Auges übertraf. Schwer zu sagen, woran das lag. Natürlich wussten wir es. Aber irgendetwas sagte einem selbst auf Distanzen hin, die mit unbewehrten Sinnen kaum zu überwinden waren, dass das, was da vor uns im Raum hing, weder Stern noch Planet, weder Asteroid noch Komet, sondern ein künstlich geschaffenes Objekt war. Und als wir nahe genug heran waren, dass man Einzelheiten unterscheiden und die Dimensionen des Ganzen abschätzen konnte, blieb mir doch die Luft weg. Mein Gott!
»Leitstrahl anfordern und Parkraum anfliegen«, sagte ich.
»Automatik übernimmt«, erwiderte Jennifer. »Tloxi-Kontinuum geschaltet.«
Wir standen auf und sahen schweigend nach vorne, während die Computer und das telepathische Tloxi-Kollektiv den Rest erledigten. Wir waren da.
Kapitel 2 – Im Torus
In den wenigen Minuten, die vergingen, bis wir in den Parkraum eingeschwenkt waren, erinnerte ich mich an jene Holobilder, die ich während der Vorbereitung auf diese Mission immer und immer wieder durchgespielt hatte. Doch etwas hatte keine noch so hochauflösende Holodatei im Livestream wiederzugeben vermocht: die ungeheuren Ausmaße dieser Konstruktion, die wir im internen Sprachgebrauch schlicht den Torus nannten.
Als ENTHYMESIS-Kommandant hatte ich im Laufe mehrerer Jahrzehnte der interstellaren Exploration einige Dutzend Welten für die Union in Besitz genommen. Aber bei keiner der damit verbundenen Rendezvous oder Landungen – sei es auf Monden, Asteroiden, Kometenkernen oder Planeten – hatte ich solch einen überwältigenden Eindruck erfahren.
Das Ding war riesig!
Jennifer steuerte die MARQUIS DE LAPLACE in den angewiesenen Parkraum, einige Kilometer über der Ebene des Torus und um dreißig Grad gegen seine Zentralachse versetzt. Wir fuhren die Reaktoren herunter und deaktivierten die besonderen Bestimmungen und Schutzvorkehrungen des Warpstatus. Das Schiff ging auf Normalbetrieb. Seine zehntausendköpfige Besatzung nahm ihre Routinetätigkeit wieder auf. Lediglich die Delegation, die wir eskortierten, machte sich für die Passage fertig.
Während ich den unaufgeregten Gang dieser Manöver an den diversen Schirmen und Konsolen überwachte, sah ich immer wieder aus der großen Panoramascheibe der Brücke und ließ die Blicke über die stählerne Welt des Torus schweifen. Aus dieser Perspektive konnte ich kaum ein Viertel seiner Ausmaße überschauen. Ich musste mir daher immer wieder die Holobilder vergegenwärtigen und sie vor dem inneren Auge über den tatsächlichen Anblick projizieren, um mir seine Gewalt in allen Dimensionen klarzumachen.
Vor uns schwebte eine gigantische reifenförmige Konstruktion von über einhundert Kilometern Durchmesser. Die MARQUIS DE LAPLACE würde durch ihren Mittelpunkt fliegen können wie ein Hering durch die Nabe eines mächtigen Rades. Unser gutes altes Flaggschiff, auf das wir so stolz waren, verhielt sich zu dieser Super-Raumstation wie ein junges Kätzchen zu einem brennenden Reifen, durch den man für gewöhnlich ausgewachsene Tiger springen ließ. Das mit weitem Abstand gewaltigste Artefakt der Menschheit lag neben dieser Basis wie ein Scheitholz neben einem futuristischen Gebäude.
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals ein solches Gefühl der Ehrfurcht empfunden zu haben. Natürlich hatten wir Welten angeflogen, die sehr viel größer waren. Aber es waren kosmische Körper gewesen, physische Entitäten, natürliche Phänomene. Hier handelt es sich um ein DING.
Der weite Ring, dessen lichter Durchmesser das Zehnfache der Längserstreckung der MARQUIS DE LAPLACE betrug, war an seiner Außenseite mit zwanzig Verdickungen besetzt, Knospen oder Ganglien vergleichbar, an denen sich die schlanke reifenförmige Trägerkonstruktion auf ein Vielfaches verbreiterte. Noppen und Knorpel setzten dort an. Kleine Blasen, Stiele, Dornen und andere Aufbauten entwuchsen der silberglänzenden Felge. In Relation zum Ganzen waren sie winzig. Mit bloßem Auge konnte man sie eben als reflektierende Pünktchen wahrnehmen. Aber auch sie mussten riesig sein. Größer als unsere größten Basen oder Orbitalstationen.
Die ganze Konstruktion drehte sich langsam. Da der Parkraum der MARQUIS DE LAPLACE mit dieser Bewegung koordiniert war, nahmen wir sie nur indirekt war: am Wandern des Sternenhintergrundes und an der sukzessiven Verschiebung des Doppelsystems, das aus den beiden Sonnen β Horus und γ Horus gebildet wurde. Das alles ging nun, von der Brücke aus gesehen, draußen auf und unter. Wir waren Teil des künstlichen Systems geworden und vollzogen seine stabilisierende Gyroskopbewegung nach.
Allerdings blieb das Zentrum des Torus, die gedachte Nabe, leer. Das Rad hatte weder Speichen noch Achse. Lediglich ein voltaischer Trichter von einigen Quadratkilometern Fläche schwebte in der Mitte der Konstruktion; seine Achse war auf die Doppelsonne ausgerichtet. Er erzeugte die Energie, die per Engstrahl im Pikometerband zu den zwanzig Wohn- und Arbeitsbereichen übertragen wurde. So kam die Station ohne Plasmakammern und Generatoren aus. Ihre Energieversorgung war autark, solange nur die beiden Sterne – der blaue und der rote – brannten, womit noch mehrere Milliarden Standardjahre lang zu rechnen war.
Es war klar, dass nur eine Macht eine solche Stahl gewordene Demonstration von politischer Präsenz und technologischer Überlegenheit ersonnen und ins Werk gesetzt haben konnte. Und während ich darüber nachdachte, was ich im Vorfeld über die Geschichte dieses Dings im HoloStream des Stabslogs gelesen hatte, fiel mir doch noch eine Begegnung ein, die eine ähnliche Beklommenheit in uns allen ausgelöst hatte. Auch wenn der Torus, gebührendem Abstand betrachtet, ungleich eleganter und filigraner wirkte, erinnerte er in seiner starren Symmetrie und der erdrückenden Gewalt seiner Masse an die Ikosaeder-Kampfstationen, die über Sina geschwebt waren und deren unerschöpfliche Feuerkraft uns an den Rand der Niederlage gebracht hatte. Was bei den Kampfstationen kugelförmig eingefaltet gewesen war, war hier zum Ring entfaltet. Aber zugrunde lag dieselbe zwanzigstrahlige Radialsymmetrie, dasselbe architektonische Selbstbewusstsein, der gleiche titanische Protz.
Читать дальше