Nichts von alldem lässt sich stichhaltig belegen. Und doch ist die Bestimmung der Stätte bis heute ungeklärt. Als historisch gesichert gilt, dass der italienische Literat, Anwalt und Forscher Domenico Rossetti (1772 – 1816) – nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter Graf Domenico Rossetti de Scander – bei seinem Aufenthalt in Nizza die Stätte entdeckt und erforscht hat. Das war anno 1803. Die Begeisterung darüber hat der Gelehrte im Gedicht „La Grotta di Monte Calvo“ zu Papier gebracht und 1811 in Turin veröffentlicht. Darin enthalten ist eine Grafik, die Rossetti mit der Pyramide (damals noch unversehrt mit Spitze) zeigt. In dieser Zeit wurde der Fundort in regionalen Reiseführern aufgelistet. Historische Dokumente belegen, dass Einheimische damals interessierten Besuchern Leitern vermietet hätten, damit diese ins Innere der Grotte Ratapignata steigen konnten. Frühere schriftliche Aufzeichnungen sind nicht bekannt. Für die meisten Archäologen steht daher fest: Das Denkmal kann nicht viel älter sein und wurde vermutlich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts errichtet. Anders die Höhle selbst: Sie ist uralt und könnte bereits Menschen der Vorzeit als Unterschlupf gedient haben.
Manche Forscher unterstellen, Rossetti sei selbst der Architekt der Pyramide gewesen. Der Italiener war Logenbruder der Freimaurer, studierte Hebräisch und Griechisch und könnte – so wird spekuliert – mit dem für den Männerbund bedeutsamen Pyramidensymbol den Höhleneingang markiert haben.
Über zwei Jahrhunderte lang interessierte sich kaum ein Archäologe oder Höhlenforscher für die Pyramide und ihr geheimnisvolles Innenleben. Erst im August 2007 folgte die staatliche Anerkennung als „Historisches Gebäude“, seither steht es unter nationalem Denkmalschutz. Die Patenschaft und weitere Untersuchungen haben Wissenschaftler des Instituts IPAAM (Institut de préhistoire et d’archéologie Alpes-Méditerranée) in Nizza übernommen. In einer umfassenden Studie präsentierten die Forscher alle verfügbaren Dokumente zur Falicon-Pyramide und der Ratapignata-Grotte. Dabei drangen die Denkmalschützer, soweit technisch möglich, in die tiefsten noch unerforschten Winkel vor, führten topografische Messungen durch und lieferten faszinierendes Bildmaterial. Und doch bleiben Fragen offen. Niemand vermag mit Gewissheit zu sagen, wohin die vielen schmalen Felsspalten führen, die das Höhlensystem an Gewölben und Seitenwänden wie ein Netzwerk durchziehen. Und der Pyramidenrest? Wurde er inzwischen herausgeputzt, renoviert und ist eine begehrte Touristenattraktion in der Region Provence – Alpes – Côte d’Azur? Nur ein Besuch vor Ort konnte meine Neugierde stillen.
Ein kleines „Schlupfloch“ führt eine Etage tiefer. Manche Bereiche sind noch unerforscht.
Ausflug zum „geschützten Baujuwel“
Bei meinen Mystery-Pyramiden-Exkursionen wie immer mit dabei: meine Lebensgefährtin Elvira. Wir steuern in Nizza das nächste Tourismusbüro an und machen uns über den besten Reiseweg kundig. Was wir ernten sind ein müdes Lächeln und ungläubiges Kopfschütteln: „Eine Pyramide? Hier in der Umgebung von Nizza? Noch nie gehört!“
Eine passende Straßenkarte von Nizza und Umgebung hilft weiter. Wir starten bei der Station Carnuschi im Norden von Nizza. Mit der öffentlichen Buslinie 25 geht es weiter Richtung Falicon. Wir machen einige Stationen vorher halt zwischen Aire Saint-Michel und La Bastide. Laut Plan kann es nicht mehr allzu weit zum ersehnten Zielort sein. Doch selbst hier, nicht unweit des markanten Bauwunders, scheinen Einheimische das „historische Denkmal“ nicht zu kennen. Seltsam, nirgendwo eine Information, die auf das geschützte Monument hinweisen würde. Erst nach mehrmaligem Nachfragen erinnert sich ein Anrainer daran, dass er vor Jahrzehnten im Gelände eine Ruine besichtigt habe, die die gesuchte Pyramide sein müsste. Er weist uns den Weg, der über schmale Gassen an Villen und Gartenhäuschen vorbeiführt. Es geht steil bergauf bis zum Eingang des Naturparks La Vallière. Wir Stadtmenschen kommen ins Schwitzen.
Vor uns jede Menge Trampelpfade, aber kein Wegweiser direkt zur Pyramide. Wir wandern allein. Nach einer knappen halben Stunde erblicken wir alte Mauerreste eines Steinhäuschens. Dahinter führt ein schmaler Trampelpfad hinaus ins freie Gelände. Wir marschieren über Privatbesitz (der öffentlich genutzt werden darf) weiter. Nach etwa zehn Minuten Spazierengehen durch wilde Naturlandschaft taucht vor uns ein großes Buschwerk auf und dahinter versteckt endlich die Silhouette der legendären Pyramide! Spätestens hier würde jeder Wandervogel einen Hinweis erwarten, der über das „geschützte Denkmal“ nähere Auskunft gibt. Nichts dergleichen. Das Bauwerk steht völlig isoliert am steilen Hang auf 430 Metern Seehöhe und ist nur mit Mühe zu finden. Selbst der Eingang in die Höhle präsentiert sich uns ungeschützt. Es gibt weder ein Sicherheitsgitter noch warnt ein Schild vor der Gefahr, dass es hier senkrecht in den Kraterschlund geht. Würden Elvira und ich einen Abstieg wagen, Hals- und Beinbruch wären uns garantiert. Langsam dämmert uns, dass die Behörden und Grundstücksbesitzer offenbar kein wirkliches Interesse daran haben, Touristen und Wanderer zum historischen Denkmal zu lotsen. Wer es dennoch bis zum begehrten Ziel geschafft hat, wird nicht enttäuscht. Schon der Panoramablick in die umliegenden Täler und Hügel, bis hin nach Nizza und der Mittelmeerküste, ist atemberaubend und entschädigt für jede Strapaze.
Denkmalgeschützt, aber wenig geehrt: versteckte Pyramidenruine bei Nizza
Blick von der Pyramidenplattform hinunter zum Grottenschlund
Und natürlich die Pyramide! Besser gesagt das, was von ihr übrig geblieben ist. Ihre Hauptkanten und Grundlinien mit Längen zwischen 5 und 6,50 Metern sind noch gut erhalten. Dennoch haben natürliche Erosion und Vandalismus Spuren hinterlassen. An den kleinen abgerundeten Steinplatten, die vielleicht ursprünglich mit einer geglätteten Kalkschicht überzogen waren, wird das im Detail sichtbar. Der obere Abschnitt fehlt. Ob mutwillig zerstört, von Souvenirjägern abgetragen oder als Baumaterial anderweitig verwendet, bleibt ungeklärt. Setzt man voraus, dass die Pyramide oben spitz zulief, muss sie einst neun Meter hoch gewesen sein.
Die unbeachtete „Zwillingsschwester“
Von der Markierung als Höhleneingang oder als Freimaurersymbol einmal abgesehen, haben Historiker noch eine andere nüchterne Erklärung für das Bauwerk parat: Die Falicon-Pyramide sei demnach einfach ein Werk, das an Napoleon Bonapartes Ägyptenfeldzug (1798 – 1801) erinnern soll. Sie wäre nichts weiter als eine Folge und Ausdrucksform der „Ägyptomanie“, die damals als gesamteuropäisches Phänomen populär war. Zeitlich würde das passen. Parks und Gärten des späten 18. Jahrhunderts und Friedhöfe des 19. Jahrhunderts sind übersät mit Denkmälern in Pyramidenform. Imposante Standbilder lassen sich unter anderem auf dem Marktplatz von Karlsruhe, im Barockgarten von Potsdam, im Schlossgarten Garzau oder im Branitzer Park bei Cottbus entdecken. Bleibt man in der Region Côte d’Azur, dann bietet sich ein Ausflug zum Schlosshügel von Nizza an. Hier liegen nebeneinander ein christlicher und ein jüdischer Friedhof (Cimetière du Château) mit sehenswerter Architektur im neoägyptischen Baustil.
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