Jetzt war das Foto ungerahmt und in Viertel gefaltet. Corina strich es auf dem Bett glatt. Das gefaltete und zerknitterte Bild zeigte sie in Stephens Armen, in ihrem Element. In ihrer beider Element. Die Gefühle ihrer Herzen spiegelten sich auf ihren Gesichtern. Entspannt, lachend, verliebt.
Sie war überrascht, dass die Presse an jenem Abend nicht Lunte gerochen hatte. Aber Stephen hatte eine pfiffige und kluge Art, den Augen der Medien auszuweichen.
Corina ließ es zu, dass ein Teil ihrer Erinnerungen sie noch einmal fühlen ließ, was sie in jener Nacht empfunden hatte.
Stephen sah in seiner Galauniform fabelhaft aus, jedenfalls gut genug, jederzeit in Ohnmacht zu fallen. Sie wirkte frei und glücklich und machte dem weißen, federhaften Kleid von Luciano Diamatia alle Ehre. Mama hatte Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um das Kleid zu Corinas Debüt fertigzubekommen, als sie 18 Jahre alt geworden war und zum ersten Mal an den großen Abendgesellschaften teilnehmen durfte. Sie hatte all ihr Können eingesetzt, um den exklusivsten und öffentlickeitsscheusten Designer der Welt aus seiner Deckung zu zerren, damit er ihrer Tochter ein einfaches kleines Kleidchen schneiderte.
Aber der Designer hatte nicht pünktlich zum Debüt geliefert. Mama war außer sich gewesen. Corina hätte das Kleid beinahe bei der Wahl zur Miss Georgia getragen, aber Mama hatte befürchtet, das würde zu Aufständen unter den anderen Mädchen führen.
Aber fünf Jahre später, als Corina nach Brighton gezogen war, um Carlos Gesellschaft zu leisten, der für die Friedensmission des Internationalen Alliiertenverbands ausgebildet wurde, gehorchte sie der kleinen leisen Stimme ihres Inneren, die sie mahnte, sie könne es vielleicht gebrauchen, und packte das Kleid ein.
Das seltene, wertvolle Kleid war eins von Corinas wertvollsten Besitztümern. Weil sie beim ersten und einzigen Mal, als sie das Kleid trug, ihre wahre Liebe heiratete.
Corina ließ das Foto sinken und starrte zur Decke. Vielleicht waren sie ja wirklich in dem Moment gebannt gewesen, hatten sich von der Romantik treiben lassen, von der dramatischen Größe, heiraten zu können, nur weil sie es wollten.
Sie setzte sich auf. Aber nein, als er auf dem Dach des Braithwaite Towers um ihre Hand angehalten hatte, hatte Corina absolut keine Vorbehalte oder Zweifel gekannt.
»Ja, natürlich werde ich dich heiraten. Ja!«
In jenem Moment hatte es auf der ganzen Welt nur sie beide gegeben. Keine Medien. Keine Regeln. Keine Traditionen. Keine 200 Jahre alten Gesetze. Keine Erwartungen. Keine aristokratische Gefolgschaftstreue auf irgendeiner Seite des Ozeans. Kein Druck. Keine Entsendung. Keinen Krieg. Keine Verpflichtungen.
Sie waren frei, ihren Herzen zu folgen. Und das hatten sie auch getan.
Sie starrte das Foto an. Das Gesicht, das ihr da entgegenlächelte, war ihres. Aber die Gefühle der Corina dort waren ein ganzes Leben entfernt von denen der Corina hier.
Und ihr Prinz? Er sah besser aus denn je, selbstbewusst und voller Stolz, sein Äußeres geprägt von seinen Rugby-Muskeln und seiner Disziplin.
Aber das war nur, was man sehen konnte. Er trug auch immer noch Schmerz in den Augen. Der gleiche Blick, den sie gesehen hatte, als sie an jenem Silvestertag nach Brighton geflogen war.
»Was ist in Torcham passiert, Stephen?«
Seine kristallblauen Augen waren matt gewesen, ihnen fehlte Leben und Frohsinn. Irgendetwas fraß tief in seinem Inneren an ihm. Aber anstatt ihr zu sagen, was das war, hatte er ihre Ehe beendet.
Genug. Ihre Reise in die Vergangenheit barg lauter Gefahren.
Als sie das Foto wieder in den Umschlag steckte, fand Corina die Tickets für die Fähre, die in einer Ecke klemmten. Sie hatten das letzte Schiff nach Hessenberg gerade noch erreicht. Ihre Füße waren an Deck gelandet, als das Boot gerade ablegte.
Lachend waren sie in eine Innenkabine gestolpert.
»Machen wir das?«
»Ja, wir machen das.«
»Bist du sicher, bist du ganz sicher? Ich kann warten –«
Seine Lippen bedeckten ihre, stahlen ihren Atem und ihr Bekenntnis.
»Corina, ich habe dich von dem ersten Moment an, als ich dich auf dem Campus gesehen habe, geliebt.«
Sie drückte ihre Hand an seine Brust. »Und ich habe dir noch nicht einmal die Uhrzeit verraten.«
Was sollte sie nun mit ihrer unerwiderten Liebe anfangen? Der Mann wollte eine Annullierung.
Corina stopfte den Umschlag zurück in das Geheimfach ihres Kleiderschranks und knallte die Tür zu. Wenn und falls sie jemals einen Mann zum Heiraten finden sollte – sollte Gott es denn so gut mit ihr meinen –, würde sie den Mut finden, dieses Kuvert mitsamt all seinen Schätzen in den Fluss zu werfen.

Gigi
Schon als kleines Mädchen, das barfuß über die Hügel ihrer Heimat in den Blue Ridge Mountains, Georgia, sauste, hatte Gigi Beaumont ein Näschen für Neuigkeiten gehabt.
Sie hatte den schönsten Klatsch und Tratsch gesammelt, indem sie um die schrumpeligen Bergbewohnerinnen – die die eine oder andere saftige Geschichte zu erzählen wussten – herumgeschlichen war, während diese sich im Gemischtwarenladen unterhielten oder über den Marktplatz schlenderten. Dann hatte Gigi ihre Geschichten aufgeschrieben und sie auf dem Matrizendrucker, den sie im Kirchenkeller gefunden hatte, vervielfältigt. So hatte sie im zarten Alter von zehn Jahren ihre erste Zeitung hergestellt.
Als Mama diese Zeitung gelesen hatte, hatte sie Gigi eine gründliche Abreibung verpasst für das, was sie über die Frau des Bürgermeisters geschrieben hatte. Aber als sich herausstellte, dass es stimmte – »es« war in diesem Falle eine Affäre mit dem Sheriff –, war Mama ihre beste Außendienstlerin und Informantin geworden.
46 Jahre später kroch sie immer noch um die Geschichtenerzähler und Tratschweiber herum und hoffte auf »die« Story. Die Skandalgeschichte, die die Welt aus den Angeln heben würde.
Beaumont Media konnte weiß Gott einen Durchbruch gebrauchen.
Mark Johnson einzustellen war nur ein heimlicher Schachzug, um der stagnierenden Marke ihrer Zeitung neues Leben einzuhauchen.
Vor 20 Jahren war sie Pionierin im großen Spiel der Online-Nachrichten gewesen.
Vor 15 Jahren hatte sie als Leitwölfin im stetig wachsenden Rudel der Nachrichtenportale im Internet gegolten.
Vor zehn Jahren waren dann die größeren alten Print-Köter mit all der Kraft und Macht, die ihnen durch ihre langjährigen Traditionen und gefüllten Bankkonten zur Verfügung standen, von der Veranda gesprungen und an ihr vorbeigezogen.
Letztes Jahr hatten ihre Bücher nur so von roter Tinte getrieft.
Sie ließ nach. Verlor. In so einer Situation war sie in ihrem ganzen erwachsenen Leben noch nie gewesen. Die Dinge standen so schlecht, dass sie heute Morgen fast, fast , gebetet hätte, als sie beim Duschen mit Grauen an das Treffen mit ihrem Finanzvorstand dachte.
Was sie brauchte, war ein Scoop, eine Sensationsnachricht. Eine Riesenstory. Sie musste im Boulevardbusiness unbedingt wieder obenauf kommen. Und das war genau der Punkt, an dem Corina, das It-Girl, ihr Gewicht in Gold wert war.
Das waren Gigis Gedanken, als sie um halb Neun am Freitagmorgen mit einem Café Latte in der einen und einer braunen Papiertüte in der anderen Hand das Beaumont-Gebäude betrat. Es war ziemlich leise. Die Party für Mark gestern Abend hatte lange gedauert. Als Gigi River Rock um Elf verlassen hatte, waren die meisten Angestellten noch dort gewesen.
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