Aber das war lange her. Eine Geschichte aus dem Märchenbuch. Corina stellte sich vor den antiken Kleiderschrank, der einst ihrer Ururgroßmutter mütterlicherseits, Thurman, gehört hatte, gekauft im Jahre 1910 in Frankreich.
Corina knipste die Stehlampe an und öffnete die geschnitzten Türen. Dann schob sie ihre Pullover beiseite und fand den Eisenring an der Rückwand, der ein Geheimfach öffnete. Hatte sie nicht nach ihrer letzten Reise nach Brighton etwas hier hineingelegt? Als Stephen sie abgewiesen hatte?
In dem gedämpften Licht fand sie den Umschlag. Den Umschlag, den sie dort hineingestopft hatte, nachdem sie in diesem verhängnisvollen Januar vor über fünf Jahren aus Brighton zurückgekehrt war.
Noch einen Monat zuvor war sie so glücklich gewesen, hatte sich auf ein freudiges, glückliches Weihnachtsfest zu Hause gefreut. Ihr süßes Geheimnis, eine verheiratete Frau zu sein, hatte nicht gerade wenig zu ihrem ganz eigenen Privatvergnügen beigetragen.
Carlos Geschenke waren lange im Voraus in die Post gegeben worden. Und Corinas private Geschenke waren zu Stephen unterwegs.
Sie hatten vor, in den frühen Stunden des Weihnachtsmorgens miteinander zu skypen. Oh, wie heiter und warm hatte sie sich mit dem großen Schatz ihres Geheimnisses gefühlt. Der Traum einer Liebenden.
Aber der Anruf über Skype blieb unbeantwortet. Ebenso wie die Karte, die die Familie an Carlos geschickt hatte.
Was vielleicht wie eine harmlose Kleinigkeit aussah – immerhin hatten sie sich schon vorher manches Mal verpasst, wenn sie telefonieren wollten – war zu einem abscheulichen Albtraum geworden, von dem Corina glaubte, sie würde nie wieder daraus aufwachen.
Sie griff in das Geheimfach und zog den Umschlag heraus. Dann ging sie auf den Balkon. Vermutlich sollte sie das vermaledeite Ding einfach in den Fluss werfen. Gut, das Ufer war beinahe einen halben Kilometer entfernt. Egal. Das wäre dann eben ein symbolisches Wegwerfen. Eine Metapher dafür, dass sie das letzte Bisschen Stephen aus ihrem Kopf und aus ihrem Herzen tilgte.
Sie zog die Hand zurück und fragte sich, wie weit sie den leichten Umschlag wohl werfen könnte. Bei ihrem Glück würde er vom Wind erfasst und auf Mrs. Davenports Balkon geweht werden.
Corina ging zu ihrem Bett zurück und schüttelte den Inhalt heraus.
Eine Grußkarte. Ein Zeitungsausschnitt. Der Kronkorken einer Limonadenflasche. Und ein dünnes, seidiges rotes Bändchen.
Corina nahm die Karte in die Hand. Mit dem Finger strich sie über die Umrisse einer sittsamen Braut aus dem Jahre 1900, die ein Kleid mit einem hochgeschlossenen Kragen und einen langen, fließenden Schleier trug. Ihre glänzenden Locken kräuselten sich um ihre Porzellanwangen, während sie ihren umwerfenden, dunkelhaarigen Bräutigam mit blauen Augen anstrahlte.
Und sie glitt in die Erinnerung hinein.
»Er sieht aus wie ich«, sagte Stephen, der die Karte aus dem Ständer pflückte.
»Ja, aber sie sieht nicht aus wie ich.«
»Perfekt, die Karte ist genau richtig für dich. Damit du dich an mich erinnerst.« Er zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich und liebevoll. Was der Ladenbesitzer, der die ganze Szene beobachtete, sich dabei dachte, kümmerte ihn nicht. »Ich werde meine eigenen Erinnerungen an dich haben.« Sein durchtriebenes Grinsen zeigten ihr ganz eindeutig, welche Sorte Erinnerungen er in sich wachhalten würde, und sie errötete.
»Stephen, pssst …«
»Was denn? Du bist meine Frau. Meine Erinnerungen werden mich durch meinen Einsatz bringen. Ich bin froh, dass sie meine Erinnerungen sein werden, ganz allein meine. Keiner wird mich fragen können ›Was macht die Werteste?‹ Wenn ich ein dämliches Grinsen im Gesicht trage, werden sie einfach denken, ich hätte zu viel Eintopf gegessen.«
»Na, na, so viel Lob. Da komme ich doch tatsächlich gleichauf mit deiner Vorliebe für Eintopf.« Corina boxte ihn sanft auf die Schulter, lachte, errötete wieder. »Ich werde auch meine privaten Erinnerungen haben. Aber die Karte nehme ich trotzdem. Sie ist so schön. Und ein Souvenir an unsere Hochzeitsnacht in Hessenberg.«
»Es tut mir leid, dass wir nicht mehr machen können, Liebes«, sagte Stephen. »Aber wenn ich von dem Einsatz zurück bin, bringen wir die Heirat mit Dad und dem Parlament in Ordnung. Du suchst dir einen Ring aus den Kronjuwelen aus. Dann machen wir ein ordentliches Fest, das einem Prinzen und seiner Prinzessin angemessen ist.«
»Aus all dem mache ich mir nichts. Das weißt du doch, oder? Solange ich ganz die deine bin.« Sie küsste ihn mit brennender Liebe. »Ist das alles wahr? Du gehörst ganz mir?«
»Sehr wahr. Du hast mein Herz gefangen, Liebes, und wir haben das ganze Leben vor uns, um Erinnerungen zu schaffen.« Er segnete ihre Schläfe mit einer leichten Berührung seiner Lippen. »Aber bis dahin hast du die hier als kleine Gedächtnisstütze.« Stephen hielt die Karte hoch und ging damit zur Kasse.
Sollte der Ladenbesitzer ihn erkannt haben, so sagte er kein Wort. Jetzt öffnete Corina die Karte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie den einfachen Spruch las.
Zu sagen, ich liebe dich, geht weit über Worte hinaus.
‘s ist eine Wahrheit in meinem Herzen.
Ich liebe dich, mein Engel, und du hast mich geheiratet.
Nichts wird uns je trennen.
Darunter hatten sie beide unterschrieben. Ihre Unterschriften symbolisierten ihre endgültige Zusicherung zueinander.
Corina warf die Karte über das Bett weit von sich. Was für ein fieser Schleimer. Alles war eine Lüge. Stephen liebte nur, solange es Spaß machte, solange alles leicht und bequem war. Aber wenn sich irgendein unerwartetes Hindernis zeigte? Peng, weg war er.
Sie griff nach dem Band und wickelte es um ihren Ringfinger. Nachdem sie keine Ringe getauscht hatten, hatte Erzbischof Caldwell Stephen angeboten, das Bändchen um Corinas Finger zu wickeln, während er sein Ehegelübde ablegte.
Stephen hatte sich so sehr dafür entschuldigt, dass er nicht besser auf seinen Heiratsantrag vorbereitet gewesen war. »Aber ich verspreche dir … wenn ich zurückkomme … jeden Edelstein, den du dir wünschst.« Er hatte ihr Gesicht in seinen Händen gehalten und sie wieder und wieder geküsst.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte Corina ihre eigenen Familienerbstücke, die sie in ihre Verbindung mit einbrachte. Der diamantene Verlobungsring ihrer Urgroßmutter Del Rey war einmal im Smithsonian ausgestellt worden. Aber wie sehr Corina doch das Band liebte und den zärtlichen, süßen, romantischen Moment, an den es sie erinnerte. Sie hob die Hand hoch und lauschte …
»Ich gelobe dir meine Liebe und Treue, meine Ehre und mein Vertrauen. Ich gelobe, dich zu ehren, bis dass der Tod uns scheidet.«
Die Erbin und der Prinz. Sie waren füreinander bestimmt. In Liebe. Für immer. Sie würden es gemeinsam schaffen, würden den Tatsachen von Wohlstand und Macht trotzen, die ein Paar in diesen modernen Zeiten auseinander zu zerren drohten.
Ihre beiden Elternpaare führten liebevolle Beziehungen. Nun ja, ihre Eltern hatten jedenfalls eine liebevolle Beziehung geführt, bis Carlos starb.
Corina steckte das Band wieder zurück ins Kuvert. Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können?
Im Umschlag steckte noch ein drittes Erinnerungsstück. Ein großes Farbfoto von ihnen beiden beim Militärball, am Abend von Stephens Heiratsantrag. Eine von Corinas Freundinnen hatte den Schnappschuss mit ihrem iPhone gemacht und ihr später geschickt. »Schön abspeichern, damit du es deinen Enkeln zeigen kannst: Der Abend, an dem du mit einem Prinzen getanzt hast.« Oh, sie ahnte ja nicht …
Corina hatte das Foto ausgedruckt, gerahmt und an ihr Ehebett in ihrer Wohnung gestellt. Wie sehr sie die Erinnerungen an all das, was sie mit dem Foto verband, schätzte.
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