Matthias Mayer wirft einen Blick auf die Diskussion des Moralproblems bei Marx und im Marxismus, der die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der Wirtschaftsethik der Gegenwart liefern könnte. Im ersten Teil wird das Moralitäts-Sittlichkeits-Theorem mit Bezug auf Adorno betrachtet; der zweite Teil stellt mit Bloch und Eberhard Braun die marxsche Kritik der Moralphilosophie vom Materiebegriff aus dar. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit dem Sowjetmarxismus, dessen Motivationsversuche zur Steigerung der Arbeitsproduktivität Mayer zufolge von der kapitalistischen Wirtschaftsethik unserer Tage variiert werden. –
José M. Romero verfolgt das Verhältnis des jungen Herbert Marcuse zu Martin Heidegger, von dem er Abstand nahm, nachdem dieser sich 1933 mit den Nazis eingelassen hatte. Romero zeigt, daß Marcuse Heidegger bereits vor seinem Freiburger Habilitationsplan kritisierte: Heideggers Ontologie der Geschichte berücksichtige zu wenig die konkrete und materiale Konstitution der Geschichtlichkeit. Zugleich übernahm Marcuse Elemente aus
Sein und Zeit in seine Fassung der kritischen Theorie. – Zwei Texte setzen sich mit kulturindustriellen Phänomenen auseinander:
Dirk Stederoth aktualisiert in seinem Beitrag die Kulturindustrie-Kritik von Adorno und Horkheimer an der Musikerin Lady Gaga, indem er exemplarisch nachzeichnet, wie heute, in einer selbstreferenziellen, medial vermittelten Popkultur der Superlative, mit Stereotypen und Standards umgegangen wird. Dabei zeigt sich, dass zahlreiche Analysekategorien der älteren Kritischen Theorie auch hinsichtlich der neuesten Pop-Phänomene noch greifen. –
Michele Salonia interpretiert die Mode als ein Kristallisationsphänomen der Kulturindustrie und akzentuiert die spezifisch neuen Formen, mit denen die Kultur durch die Kulturindustrie transformiert wird. Er führt das Konzept der ›Modenform‹ ein und arbeitet den strukturellen Zusammenhang von Mode und Kulturindustrie vor dem Hintergrund kultursoziologischer, semiotischer und systemtheoretischer Modetheorien heraus. Bei Produkten der Kulturindustrie gehe es nicht um das Verstehen von Objekten, sondern um das Spüren des sozial erfolgreichen Neuen. Damit Individuen sich zurechtfinden und in Kollektive integriert werden können, bildeten sie ein feines Gespür dafür aus, was in der kulturellen Alltagspraxis ›ankommt‹. Genau das aber sei das Prinzip der Mode in der Kultur der Moderne. – Für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck der Beiträge von Stederoth und Salonia danken wir Anne Eusterschulte und Jordi Maiso, den Veranstaltern der Tagung »Kritische Theorie der Kulturindustrie: ›Fortzusetzen‹« am Institut für Philosophie der freien Universität zu Berlin im Januar 2012. Alle Vorträge dieser Tagung werden im kommenden Jahr im Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg, erscheinen. – Des Weiteren legt
Jens Birkmeyer eine Lektüre von Walter Benjamins
Berliner Kindheit um neunzehnhundert vor, in der er die These entfaltet, dass es sich in den einzelnen Abschnitten nicht um einfache Erinnerungsbilder handle, sondern um eine Reflexion auf das Erinnern, in der eine ästhetisch amalgamierte Erinnerungsarbeit geleistet wird. Neben dem Blick in die Vergangenheit werde das Angeblicktwerden aus der Vergangenheit konzipiert. Dieses könne medientheoretisch aufgeschlossen werden, indem die Teilhabe des Subjekts am Angeblicktwerden konzipiert wird. Birkmeyer spricht mit Lambert Wiesing von einem Übergang vom ›Ich‹ zum ›Mich‹ der Wahrnehmung und stellt im Verlaufe des Artikels weitere medientheoretische Anschlüsse im Übergangsbereich von Literarizität und Bildlichkeit her. –
Gerhard Vinnai spürt der Kategorie des Wunsches in der Psychoanalyse nach. Er kann mit Freud zeigen, dass das psychoneurotische Symptom als Wunscherfüllung des Unbewussten aufgefasst werden muss; zugleich setzt Freud auf eine Anerkennung der eindimensionalen Realität. Dagegen betont Vinnai umgekehrt, dass der heute vorherrschende scheinbar nüchterne und realistische Glaube an die Vernunft des Kapitalismus insgeheim vom Wunsch nach einer Art religiöser Erwähltheit lebe, die sich mit infantilen Wunschwelten verbindet. Dieser Zusammenhang sei kritisch aufzunehmen, um die utopische und verändernde Dimension der Wunschwirklichkeit davon abzulösen und aufzuzeigen. –
Christine Zunke liefert wichtige und überfällige Elemente einer Kritik der Neurophysiologie. An den Forschungen von Gerhard Roth und anderen kann sie zeigen, dass der heutige Trend zur Neurophysiologie als neuer universalistischer Leitwissenschaft ideologisch ist, hinter die Auseinandersetzungen um den Positivismusstreit zurückfällt und die soziale Realität der Menschen im Kapitalismus nicht berücksichtigt. Mit Verweisen auf Marx und die notwendige gesellschaftliche Reproduktion der Individuen macht sie deutlich, dass die heutigen Biologen sich noch immer an Skinner und anderen Behavioristen ausrichten und von naiven anthropologischen Vorstellung über die Naturhaftigkeit des Menschen ausgehen.
In den Einlassungen drucken wir zunächst zwei Artikel, die als Reaktionen auf das Gespräch zwischen Christoph Türcke und Axel Honneth aus Heft 32 / 33 bei der Redaktion eingegangen sind. Dabei geht es um eine grundsätzliche Positionsbestimmung der Kritischen Theorie heute. Hans-Ernst Schiller präpariert in einem historischen Durchgang vom frühen Horkheimer bis zu Habermas die Hauptgedanken der Kritischen Theorie heraus, wobei er die ökonomische Theoriebildung und deren Auswirkungen in den Mittelpunkt stellt. Es handle sich bei der Kritischen Theorie, so die Einstiegsthese, um eine unter mehreren historischen Formationen, in der die an Marx anknüpfende Kapitalismuskritik nach dem Scheitern der proletarischen Revolution gedacht worden sei. – Während Honneth zu dem Schluss kam, dass Kritische Theorie heute kaum mehr plausibel gemacht werden könne, da sie mit überholten Hegel- und Marxprämissen arbeite, macht Gunzelin Schmid Noerr deutlich, wie sehr sich der Materialismus der Kritischen Theorie von Hegel und Marx auch unterscheidet und genau deswegen zum Verständnis heutiger kultureller und psychologischer Phänomene einen wichtigen Beitrag leisten kann. – Gerhard Richter unternimmt eine Selbstvergewisserung in Bezug auf die Position des Intellektuellen in der heutigen Gesellschaft. Ausgehend von Brechts berühmten Versen, in denen ein Gespräch über Bäume ein Schweigen über unzählige Untaten mit sich bringt, misst Richter die widersprüchlichen Implikationen des kritischen Sprechens aus, indem er das brechtsche Bild des Baumes fortschreibt und dabei auch auf Positionen von Adorno und Marcuse zurückgreift. – Karlheinz Gradl diskutiert Adornos Lektüre des kantischen Motivs des Erhabenen anhand der Begriffe Subjekt, Natur, Totalität und Mythos. Er zeigt, wie Adorno ein Theorem von Benjamin über die Rettung des Mythischen und die Versöhnung von Vernunft und Mythos auf Kants Philosophie zurückprojiziert. Adornos dialektisches Konzept des Erhabenen ist der Vorschlag für einen Vermittlungszusammenhang in Bezug auf das Subjekt und dessen Rezeption des Mythos in der Moderne: Im Kunstwerk werde der Reflex auf die begriffslose Erkenntnis im Erhabenen zur Form. So könne das Subjekt, nach Adorno, vermittelt durch die Erfahrung des Erhabenen eine »andere Form souveräner Autonomie« entwickeln, die sich nicht in den Aporien der Naturbeherrschung verstrickt. – Susanne Martin , schrieb Heinz Steinert im Jahre 2010, »arbeitet über Entwicklungen des Intellektuellen-Begriffs im 20. Jahrhundert mit Adorno und der ›nonkonformistischen Intellektualität‹ als Angelpunkt«. Ihre Forschungsfrage laute, »in welchen Formen eine solche Intellektualität unter Bedingungen von erweiterter Kulturindustrie möglich ist«. In ihrem hier publizierten Aufsatz stellt Martin erste Ergebnisse vor: eine methodisch kontrollierte Ideologiekritik der kulturindustriellen Intellektuellendarstellung, die der Spiegel im sogenannten ›Jahr der Geisteswissenschaften‹ lieferte. Die Analyse macht transparent, wie durch Personalisierung und Marginalisierung der Arbeitsinhalte visuelle und sprachliche Bilder abenteuerlicher, erfolgreicher und selbstdarstellungserprobter ›Geistesgrößen‹ gestaltet werden, die Intellektuelle auch da noch konformistisch erscheinen lassen, wo ihre Arbeit es nicht ist.
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