Als „Onkel“ Harald Suhl vor einigen Jahren starb und ihm sein gesamtes Vermögen vererbte, zog Heiko von seinem Kellerzimmer im Herrenhaus der von Steinbergs in dieses Haus um. Während inzwischen in den anderen Wohnräumen des Hauses zahlreiche Umbauten durchgeführt wurden, blieb dieses Zimmer unberührt. Mit Ausnahme der neuen Tapeten befand es sich noch im selben Zustand wie beim Ableben des kauzigen Alten. Heiko liebte dieses Arbeitszimmer, da es mit zahlreichen Erinnerungen an seine Kindheit verbunden war.
Onkel Suhl, ein langjähriger Freund der Familie und unerwidert gebliebener Jugendliebhaber von Heikos Großmutter Alexandra, war sozusagen „Oldenmoors Institution des Wissens“ gewesen. Trotz seines exzentrischen Verhaltens und seiner für seine Gesprächspartner oft unverständlichen Ausdrucksweise hielt man ihn für eine Kapazität. In der Tat war er sehr belesen und hinterließ eine ansehnliche Bibliothek. Heiko hatte einige Mühe, seine eigenen, ebenfalls zahlreichen Bücher in dem bereits ziemlich vollen Bücherregal unterzubringen.
An der gegenüberliegenden Wand hängt ein in dezenten Pastelltönen gemaltes Bild: ein sehr hübsches, etwa sechzehn Jahre altes Mädchen mit himmelblauen Augen, langlockigem, kastanienbraunem Haar und wohlgeformten Lippen, das den Betrachter mit einem leicht angedeuteten Lächeln ansieht. Unter dem Signum „Heiko Keller“ und der Jahreszahl 1930 am unteren Bildrand steht in kleinerer Schrift: „Bildnis der Prinzessin von der madigen Erbse, die in einem verzauberten Schloss an der alten Esche gefangen gehalten wurde“.
Heiko hört Schritte auf der Treppe. Die Tür öffnet sich und eine robuste, etwa siebzehnjährige stämmige Deern mit blauen Augen und langen, blonden Zöpfen betritt freundlich lächelnd das Zimmer. Sie trägt den Kohleneimer in der einen und einige alte Zeitungen in der anderen Hand.
„Ich mache Ihnen sofort das Feuer an, Herr Keller“, sagt sie eifrig und geht vor dem kleinen Kachelofen in die Knie.
Durch das Eintreten des Hausmädchens aus seinen tiefen Gedanken herausgeholt, nickt Heiko stumm. Beklommen blickt er auf den Totenschädel in seiner Hand und deponiert diesen schließlich auf dem Zeitungsartikel über das Blutschutzgesetz. Er steht auf und geht langsam im Zimmer umher. Plötzlich bleibt er vor dem Bücherregal stehen, greift nach einem Band und blättert suchend darin. Nachdem er die gewünschte Stelle gefunden hat, liest er ein paar Seiten, schüttelt den Kopf und schiebt das Buch in seine Lücke zurück.
Sein Blick bleibt an einem Wandkalender haften, der anzeigt, dass heute der 16. September 1935 ist.
„Die gnädige Frau ... lässt Ihnen ausrichten, dass ... es bald Abendbrot ... geben wird“, sagt Silke, wobei sie ihren Satz mehrmals zum Tief-Luft-Holen und In-das-Feuer-Blasen unterbricht. In der Feuerstelle des Kachelofens lecken bereits einige rötliche Flammenzungen gierig an den fetten, schwarzen Kohlen.
„Danke, Silke. Haben die Kinder schon gegessen?“
„Sie waren gerade dabei, als ich hochgekommen bin.“
„Gut, dann gehe ich schon mal runter.“
Heiko steigt die Treppe hinab und schleicht auf Zehenspitzen durch die Diele bis hin zur Küche. Leise öffnet er die Tür, bleibt im Türrahmen stehen und betrachtet mit einem stummen Lächeln das lebendige Bild, das sich vor ihm auftut. Am Küchentisch sitzt eine auffallend hübsche, junge Frau, die eine große Ähnlichkeit mit dem Portrait in seinem Arbeitszimmer hat. Aus der damals mädchenhaften Clarissa ist inzwischen eine besonders aparte Erscheinung geworden. Mit fürsorglichem Mutterblick wacht sie über das Abendessen ihrer beiden Kinder. Ein etwa zweijähriger, strohblonder Bube sitzt auf einem Kinderstuhl und rührt eifrig mit dem Löffel in seinem Schüsselchen herum, wobei der Brei darin überzuschwappen droht. Währenddessen gibt Clarissa dem Baby auf ihrem Schoß die Milchflasche.
„Oliver! Hör bitte auf, in deinem Brei herumzustochern. Mit dem Essen darf man nicht spielen.“ Clarissa spricht ihren Verweis in einer ruhigen, versöhnlichen Stimme aus.
Oliver hebt seinen Blick von der Schüssel und sieht Heiko in der Tür stehen. Seine blauen Äugelein strahlen vor Freude und er fuchtelt wild mit dem Löffel in der Luft herum, während er gleichzeitig in seiner Kleinkindersprache in hohen Tönen quiekt.
Verwundert blickt sich Clarissa um. Mit einem warmen Lächeln begrüßt sie ihren Mann, der auf das Trio zueilt und jeden von ihnen zärtlich umarmt und küsst. Heiko nimmt Oliver den Löffel aus der Hand und füttert ihn geduldig, bis er seinen Brei aufgegessen hat.
Unterdessen berichten sich die jungen Eltern gegenseitig von ihrem Tagesablauf. Während er Clarissa zuhört, denkt Heiko, dass sie sich seit jenem Frühlingsabend vor vier Jahren, an dem ihr endlich ihre Liebe zu ihm bewusst wurde, äußerlich kaum verändert habe. Sicherlich, sie ist inzwischen reifer geworden, aber die zweimalige Mutterschaft hat weder ihrem Gesicht noch ihrer Figur nachteilige Veränderungen zugefügt. Sie ist noch genau so erfrischendnaiv-aufrichtig-bildhübsch wie damals, gesteht sich Heiko mit Bewunderung ein.
„Ich war heute mit den Kindern zu Besuch im Herrenhaus“, erzählt Clarissa. „Der Papa und die Mama haben sich sehr gefreut. Tante Therese kam später auch noch dazu. Sie alle lassen dich grüßen.“
„Danke für die Grüße. Ich habe euch aus dem Fenster meines Arbeitszimmers gesehen. Der beeindruckende Konvoi zweier Kinderwagen unter Führung eines bezaubernden Kommodores entging nicht meiner Aufmerksamkeit.“
Von Heikos Bürofenster in der Backwarenfabrik blickt man direkt auf das Herrenhaus der Familie von Steinberg. Dieses gehört allerdings schon seit einigen Jahren Heiko. Er löste damals mit einem Teil des von Onkel Suhl geerbten Geldes eine fällige Hypothek ab und konnte somit seinen zu der Zeit noch zukünftigen Schwiegereltern – gleichzeitig Großonkel und Großtante – ihr Heim erhalten.
Clarissa nimmt das Kompliment ihres Mannes mit einem Lächeln an. Während sie das Baby halb über ihre Schulter hält, klopft sie rhythmisch und zart auf dessen Rücken. Elisabeths wiederholtes, lautes Aufstoßen bestätigt der Mutter die Wirksamkeit dieser Methode, die ihr Sanitätsrat Dr. Schmitthofer zur Entfernung der lästigen Luft aus dem Babybäuchlein empfohlen hat. „Und wie war dein Arbeitstag, mein Liebling?“
„Nichts Ungewöhnliches, alles Routine. – Hast du heute schon die Zeitung gelesen?“
„Ja, aber nur oberflächlich. Ich ...“ Abrupt unterbricht Clarissa den angefangenen Satz, als Silke in der Tür erscheint. Sie steht auf und hebt spielerisch ihr Baby in die Luft. „... bringe jetzt die Kinder ins Badezimmer und danach geht’s ab in die Heia! Silke, bringen Sie bitte Oliver mit?“ Im Vorbeigehen küsst Clarissa ihren Mann rasch auf den Mund und ist danach auch schon aus der Küche verschwunden. Silke folgt ihr mit Oliver auf dem Arm. Der Bub protestiert laut und wirbelt mit seinen Ärmchen wild in der Luft herum.
Nach einem kurzen Augenblick erlischt Heikos Lächeln, das sich durch Clarissas überraschende Liebkosung auf seine Lippen geschlichen hatte. Seufzend setzt er sich wieder an den Küchentisch und rührt gedankenverloren mit dem Kinderlöffel in Olivers leerer Breischüssel. So weit sind wir also schon gekommen, gesteht er sich verbittert ein. Man kann seine Gedanken nicht einmal mehr im eigenen Heim offen zum Ausdruck bringen. Jeder hat – ja, jeder muss vor jedem Angst haben. Man redet zwar nicht offen darüber, aber man weiß, was mit jenen passiert ist, die es gewagt hatten, das zu sagen, was sie dachten. Sie verschwanden plötzlich und man hat die meisten von ihnen nicht wieder gesehen. Und die wenigen, die zurückgekommen sind, schweigen sich aus.
* * *
Heiko und Clarissa sitzen im Esszimmer. Silke hat soeben den Tisch abgeräumt und verlässt, vollbeladen mit Tellern und Besteck, den Raum. Während des Abendessens ist keine richtige Unterhaltung zwischen den beiden zustande gekommen, sie haben die meiste Zeit nur schweigend gegessen.
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