Das kleine Parthestädtchen strahlte an diesen Morgen eine Ruhe aus, die sie selten so genossen hatte. Sie musste nie wieder in ihr Krankenhaus. Vor allem konnte sie sich auch nicht vorstellen, noch weitere fünf Jahre dort zu arbeiten. Sie hatte jetzt unendlich viel Zeit. Agatha war fest entschlossen ihr Leben zu ändern. Was wusste sie schon von Taucha? Hier hatte sie eh nur geschlafen, hin und wieder ein wenig fern gesehen, um sich dann auch schon wieder auf den Weg zur Arbeit zu machen. Arbeiten, arbeiten, immer wieder arbeiten war zu ihrem Lebenselixier geworden, hatte sie ständig und immer wieder angetrieben, unfähig sich zu erinnern, dass es noch andere Dinge in ihrem Leben geben könnte. Ab jetzt war sie nun „Seniorin“, und genau das wollte sie auch mit ganzen Herzen sein.
Es war Samstag früh, es war Oktober, sie war Sechzig und das Abenteuer Leben sollte für Agatha genau an diesem Tag beginnen. Sie hatte in der Zeitung gelesen, am Abend würde in Taucha ein Nachtwächterrundgang stattfinden, eine Kriminaltour durch ihre Heimatstadt.
Nachtwächtertour
15.Oktober
Treff: 18 Uhr
Sparkasse Taucha
Dauer: ca. 3,5 Stunden
„Tauchas absonderliche Kriminalfälle“
„Sie meinten bisher, in Taucha passiert nichts? Irrtum! Der Nachtwächter führt Sie auf dieser spannenden Tour zu ehemaligen Tatorten, an denen in den letzten sechs Jahrhunderten Kriminalfälle passierten, die den Ermittlern so manches Rätsel aufgaben. Nehmen Sie mit Johann Christoph Meißner die Spuren der Vergangenheit wieder auf und staunen Sie über so manche abrupte Lösung ...“
Hier wollte sie nun alles nachholen, was durch Arbeit in den Hintergrund gerückt war. Agatha war wissbegierig und sie wollte auch staunen, genauso wie es in der Zeitung stand. Sie wollte die helle und die dunkle Vergangenheit ihrer doch so unbekannten Wohnstätte ergründen. Heute stand die Dunkle auf der Tagesordnung, und Agatha wusste in diesem Moment noch nicht, dass diese Tour ihr ganzes Leben verändern würde.
Noch gestern dachte sie: „Mörder, Diebe, Ehebrecher und das in Taucha, das gibt es doch gar nicht.“ Die Menschen waren nett, und wenn sie doch einmal Mittwoch auf den Markt ging, um frische Blumen für ihre kleine zauberhafte Wohnung zu kaufen, grüßten sie alle sehr freundlich, standen in kleinen Gruppen und tuschelten. „Nein, hier gibt es doch keine Mörder und Diebe, und Spießertum ist ja nun auch kein Verbrechen.“ Noch gehörte Agatha nicht so richtig zu ihnen. Obwohl sie schon viele Jahre in Taucha wohnte, angekommen war sie hier noch nicht. Sie sah sich allerdings schon mitten unter diesen Menschen. Sie wollte dazugehören, sich an den Gesprächen beteiligen und viel über diesen Ort erfahren, einen Ort, welcher sie immer mehr in seinen Bann zog. Im Buchladen, welcher hinter den Arkaden unterhalb ihrer Wohnung zu finden war, konnte Agatha einige Büchlein über Taucha erwerben und wurde in ihnen fündig. Sie konnte ihr Wissen über dieses bezaubernde Städtchen an der Parthe erweitern.
So zum Beispiel, dass Taucha erstmals im Jahre 974 urkundlich erwähnt wurde, dass in den Jahren 1349 und 1680 viele Menschen durch die Pest starben und auch dass mehrere Großbrände die Stadt zerstörten. Das Städtchen Taucha lag auf einer Höhe von 128 Meter über dem Meeresspiegel, hatte mit seinen neun Ortsteilen etwas über 14500 Einwohner zum jetzigen Zeitpunkt. Am 22. Januar 1851 wurde in der Schloßstraße 2 in der Wohnung des Herrn Breitenborn das erste „Expeditionslocal der Sparcasse der Stadt Taucha“ eröffnet.
Da war es wieder, das was sie schon seit Tagen beschäftigte – Sparkasse Taucha, hier war heute Abend der Startpunkt für den Nachtwächterrundgang, auf welchen sie sich schon wie ein kleines Kind freute. Heute ist die Sparkasse in der Leipziger Straße untergebracht und genau dorthin machte Agatha sich nun auf den Weg.
II. Mit Jürgen Schulze durch Taucha
Jürgen Schulze alias Nachtwächter Johann Christoph Meißner
Das Wetter war sehr angenehm, das Thermometer zeigte an diesem frühen Oktoberabend immerhin noch beachtliche zwanzig Grad. Jürgen Schulze war von zu Hause aus gelaufen, immer durch den jetzt farbenprächtigen Stadtpark. Schwerfüßig stapfte er durch das herbstliche Laub auf den Parkwegen. Unter seinem großkrempigen Hut und dem langen Umhang schwitzte er gehörig. Darunter hatte er sich eine dicke Strickjacke und einen Pullover angezogen. Hätte er doch nur auf seine Frau gehört. Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass es noch ein warmer Abend sei und er in dem Aufzug doch fürchterlich schwitzen würde. Jürgen Schulze hatte dies ignoriert und gedacht: „Lass sie nur reden, ich muss ja schließlich an den Hintern frieren.“ Er würde das gegenüber Gaby aber nie zugeben, dass sie recht gehabt hatte. Ein Übriges hatte der Rotwein am gestrigen Abend getan, welchen er mit einem Freund in einem kleinen Café in Taucha getrunken hatte. Es sollte eigentlich nur ein Schoppen von diesem wunderbaren trockenen Bardolino werden, es wurden aber einige von diesem edlen Gesöff und es wurde sehr spät. Leicht besäuselt hatte er sich dann gestern auf den gleichen Weg, in die andere Richtung, gemacht, den er auch jetzt benutzte. So stapfte er schwitzend durch den Park, mit Nachtwächterlaterne und Horn, laut vor sich hin schimpfend. Sein Weg führte am Schöppenteich vorbei, an einer lärmenden Gruppe von Jugendlichen, welche ihn ganz ungläubig wie einen Außerirdischen anstarrten. „Zurück in die Zukunft“, dachte Jürgen. Er war eben ein Relikt aus der Vergangenheit, und diese Rolle spielte er gern und gut. Jürgen Schulze war der Nachtwächter Johann Christoph Meißner. Er bog ein auf den Weg, der zur Leipziger Straße führte, und konnte die Sparkasse schon sehen. Jürgen Schulze, ein groß gewachsener, übergewichtiger Endfünfziger, kam schwitzend und prustend an der Sparkasse in Taucha an.
Das Gebäude war 1930 auf Geheiß des damaligen Bürgermeisters Karl Hermann Jubisch als Stadtsparkasse im Bauhausstil errichtet worden.
Bei dem Anblick der Sparkasse musste Schulze immer wieder ein wenig grinsen. Dieses Grinsen brachte umgehend seine Atmung wieder in normale Kanäle und er erinnerte sich, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Bericht durch die örtliche Presse ging, welcher die Sparkasse als den Ort eines Verbrechens bekannt machte.
Ein unbekannter und bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ermittelter Täter hatte zu Geschäftsbeginn mit einer Bohrmaschine den hinteren ungesicherten Personaleingang geöffnet. Durch diesen war er in die Sparkasse eingedrungen und hatte auf die Angestellten gewartet, um ihnen dann nach und nach die Handys abzunehmen. Die Bohrmaschine unter dem Kittel des Täters hielten alle für eine Waffe und machten bereitwillig, was dieser forderte. Er entkam mit einer beträchtlichen Summe in seinen roten Schuhen. Bestimmt war es nur eine Frage der Zeit, dass der Polizei auch dieser Täter ins Netz ging oder es blieb für immer eine Frage.
Schulzes Freund Georg Tandler, der ermittelnde Hauptkommissar, würde heute ohnehin an der Krimitour teilnehmen. „Vielleicht kann er mir ja etwas Neueres dazu berichten, natürlich nur wenn er darf.“ Beide hatten schon in ihrer Phantasie ganz komplizierte Kriminalfälle gelöst. Heute wollten sie sich mit einigen Krimifreunden auf eine Tour durch das düstere Taucha machen.
Schulze musterte die potentiellen Tourteilnehmer, welche sich in kleinen Gruppen formiert vor der Sparkasse eingefunden hatten. Sein Blick ging von einer Person zur anderen. Er stellte fest, dass noch nicht alle eingetroffen waren und konnte sich mit der Betrachtung Zeit lassen. Die hatte er ja auch noch, denn es war noch mehr als eine halbe Stunde bis zum Beginn des Rundgangs. Zeit, die er für seine körperliche Regeneration brauchte. So ließ er sich kurz entschlossen auf der Treppe zur Sparkasse nieder, nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und setzte ungeniert seine Betrachtung fort.
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