Wer sich nicht bemüht, findet er immer vernichtende Gründe; Liebig war das Paradebeispiel dafür. Bei ihm war Jakob dauernd Mode. Jakobs viele außerschulische Aktivitäten, die im Zeichenkurs, im Ballett, beim Sportschießen und sogar den A-cappella-Gesang mit seinen beiden Brüdern, der vor der gesamten Schule großen Anklang fand, all das tat Liebig entweder mit zynischer Verachtung ab oder er reagierte erst gar nicht darauf.
Eines Tages hatte er mal wieder eine Vertretungsstunde übernommen. Da fragte er in der Klasse nach den Berufswünschen.
Jakob merkte auf.
So etwas Besonderes hatten sie ja noch nie. Zwei der Mädchen wollten Lehrerin werden, andere Ärztin, Krankenschwester oder Kindergärtnerin. Die Jungen träumten vom Schlosser, Koch, Chemiker und manch anderem. Auch Jakob träumte. Als die Reihe dann an ihm war und Jakob aufstand, um seine berufliche Vorstellung zur Sprache zu bringen, hob Liebig die Hand, setzte ein missbilligendes Gesicht auf und würgte den Jungen ab: „Ach du, dein Weg ist sowieso vorbestimmt! Aus dir wird ohnehin, wenn überhaupt, allemal nur ein Maurer. Genau wie dein Vater.“
Jakob starrte durch den Liebig hindurch und alle Sprache war wie weggeblasen. Als stände es schon an, als besäße die Aussage tatsächlich irgendwie Gewalt über ihn, war er auf seinen Stuhl zurückgefallen.
Keiner sah die geballten Fäuste in seinen Hosentaschen. Liebig hatte ihn nicht nur seiner Träume beraubt, sondern geradezu ungeheuer getroffen. Ihn und seine ganze Familie. Das würde Jakob nicht zulassen! Aber: Er konnte sich dagegen verwahren wie er wollte, diese Aussage des Lehrers sollte sein Leben für eine lange Zeit prägen.
Später einmal, als Jakob mit seinem Trainingspartner im Langstreckenlauf zusammen war und sie sich eine Verschnaufpause gönnten, gestand er es dem recht offen: „Zu dem Liebig habe ich überhaupt keinen Draht. Und dann die Mädchen immer noch, wenn man das sieht, wie sie sich anbiedern mit ihrer kindlichen Weiblichkeit. Nee, das kann ich gar nicht ab. Und wenn man auf so was reinfällt …“
Seit dem Moment jedenfalls, wo er vor der Klasse so erniedrigt worden war, gab er sich im Inneren sicher.
Nie mehr würde er auf seine Mitmenschen hören, nie.
Die wollten ihn nur unterbuttern und klein halten. Liebig war das abschreckende Beispiel dafür. Jakob muss also einen anderen Weg gehen, konnte sich nur auf sich selbst und höchstens noch auf seine eigene Familie verlassen.
Soviel war nun klar.
Perplex, aber seitdem positioniert, weil Liebigs Aussage ihm eine wichtige Erkenntnis brachte, lehnte sich Jakob zurück. Es arbeitete in ihm, er plante und wusste bereits zu diesem Zeitpunkt, dass einmal etwas wirklich Großes aus ihm werden würde. Alles, alles Mögliche konnte das sein, nur kein Maurer. Wow, auf einmal konnte Jakob im Stillen richtig triumphieren! Der eigentliche Witz nämlich war: Anton, sein Vater, war kein Maurer. Nein, er war in dem langen bewegten Berufsleben eher zu einem Multitalent geworden. Schon als Erstberuf hatte Anton etwas ganz anderes gelernt. Klavierbauer.
„Musik? Kultur? Sieh mal an“, reflektierte Jakob.
Später dann ging Anton zum Bau, wo es mehr zu verdienen gab. Doch seine musisch-kulturelle Seele blieb ihm Gott sei Dank erhalten und er förderte fast versessen jegliches Talent seiner Söhne. Unterstützte sie bis hin zum Transport der Instrumente, wo er kräftig mithalf, wenn sie denn zu ihren Auftritten fuhren. Diese Livemusik und das zugrunde liegende Talent hielt er für unbedingt ausbaufähig. Er und seine Frau störten sich auch nicht daran, wenn die Jungs bis zu vier Stunden an ihrem Gesang feilten; denn die Proben endeten erst, wenn sie mit ihrer Tagesleistung zufrieden waren. War Anton in Stimmung, trat er manchmal hinzu, nahm seine Gitarre und zupfte auf ihr die Lieder aus seiner Jugendzeit, und wenn er besonders gut gelaunt war, dann sang er noch dazu. Meist stimmten die Jungs intuitiv dreistimmig mit ein. Das waren die Momente für alle! Es waren auch die Momente, in denen die Jungs ihre schlechten Noten vorlegen konnten. Weil sie insgeheim glaubten, er würde ihre Versuche, die Mutter zu übergehen, nicht merken. Doch dem war nicht so. Am Abend mussten sie dann doch Rede und Antwort auch vor ihr stehen.
Im Grunde war Anton also ein sehr geselliger und verständnisvoller Mann. Jedoch auch sehr streng. Vielleicht rührte das aus seiner Vergangenheit her. Er hatte den eigenen Vater bereits mit acht Jahren verloren. Und war seither durch diesen zweiten Weltkrieg der einzige Mann im Hause. Geblieben waren die Mutter und zwei Schwestern. Er musste sich das Vatersein quasi selber beibringen. ‚Was bleibt einem anderes übrig?’, dachte er und tat es. Den Söhnen fehlte es an nichts, außer vielleicht dem Wunsch, er würde häufiger da sein. Doch das ließ sich nicht ändern. Er machte viele Überstunden, um etwas Geld heimzubringen. Da konnte es schon passieren, dass ihm selber manches Mal Zeit und Muße fehlten, um sich in das Familiengeschehen einzudenken.
Hin und wieder also war er etwas unleidlich, doch er bemühte sich.
Versuchte die Dinge wenigstens zu klären und hatte dadurch einen hohen Stand bei seinen Jungs. Auch konnten sie sich an ihm messen, damit hatte er kein Problem, das ließ er zu. Fiel ein böses Wort oder brach Streit aus, wurde das immer mit einem klärenden Gespräch bereinigt.
Ließen es die Söhne jedoch an Respekt gegenüber der Mutter fehlen, konnte es schon passieren, dass alle drei gleichzeitig einen Klaps auf die vorlauten Münder bekamen. Trotzdem: Hier gab es weder Schmollen noch Verstoßen. Immer blieb das Verständnis für den anderen das oberste Gebot. Diese Achtung vor dem anderen wurde den Söhnen selbstverständlich, aber auch eindringlich anerzogen. Sie deckte sich mit dem Lebensinhalt der Eltern und sollte unter den Nachkommen ebenfalls prägend werden. Auf die Art resultierte daraus ein unglaublicher Familienhalt. Einer, das war zu spüren, der immer echt und nie aufgesetzt war und der Anton und Barbara eben gelang, indem sie es zweifelsfrei vorlebten.
Nun war es zwar so, dass von staatlicher Seite die Zukunft ihrer Söhne bis aufs Haar abgesichert sein mochte, die politischen Dinge indes blieben vorgeschrieben. Und damit saß selbst Anton in der Klemme.
Das wurmte ihn ungemein. Hier und dort konnte er es bedenken wie er wollte … Wie sollte man in dieser Lage Söhne zu Freidenkern, zu ehrlichen und unverklemmten Männern erziehen?
Gerade, wenn Anton etwas total gegen seine Überzeugung ging, wie die ihm mehrmals abverlangte Parteizugehörigkeit, tat er dies mit all seiner Autorität kund. Dann konnte sich alles gratulieren, was anwesend war!
Dann stand er aber auf, darin kannte er nichts. Prasselte mit all seinen Argumenten auf die anderen hernieder. Was in diesem Staat nicht immer auf Verständnis stieß. Doch bot der Staat den Seinen andererseits ein angemessenes Maß an Freiheit, sich zu entwickeln und den eigenen Interessen nachzugehen.
Auch Jakob dachte inzwischen öfter darüber nach, was er mal werden wollte. Doch noch war er sich nicht sicher. Nach seiner Mutter, Barbara, hätte er beruflich nicht geraten wollen, hatte die Mutter doch Porzellanmalerin gelernt und später noch ein Studium zur Heimerzieherin absolviert. Nein, er sah sich nie so, nicht mal im Traum. Was hätte Jakob auch mit so kleinen Würmern anfangen sollen? Dieses ständige Gewusel um die Beine, von vorne und von hinten.
Dieses: „Du, Onkel, ich muss mal, ganz dolle.“
Außerdem müsste er sie zum Mittagsschlaf bewegen, den er selber früher schon nicht hatte leiden können. Und wie wäre es, wenn es daran ginge eine Sandburg zu bauen?
Da wäre Jakob gerade der Richtige.
Hierfür bräuchte er bestimmt den allermeisten Platz im Sandkasten. Die Burg wäre dann so richtig mit Zinnen, Erkern und einer hölzernen Zugbrücke. Trotzdem: Er, als Mann? Heimerzieherin? Nein, dachte er. Das geht gar nicht. Obwohl Jakob die Mutter stets bewundert hatte, mit wie viel Ruhe und Geschick sie auf sämtliche Nöte und Wünsche ihrer Zöglinge eingegangen war.
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