Und doch. Zu seiner ersten Lesung in München, seinem ersten Auslandsauftritt überhaupt, kamen massenhaft Frauen (junge! hübsche!!) in ein Szenelokal, das, Sie erraten es, unsereins vorher nicht einmal dem Namen nach kannte. Nüchtern war von deren Anblick schwer beeindruckt. Und die Mädels schlossen Nüchtern sofort ins Herz, bald musste er nur noch die Augenbrauen hochziehen – wie er es ja nicht selten und völlig unspektakulär zu tun pflegt –, und im Saal erhob sich hysterisches Kreischen. Seit diesem Abend werde ich in München gefragt, ob es wahr sei, dass ich den Nüchtern kenne. Ich gebe mir dann Mühe, sehr cool zu wirken. Klar kenne ich ihn. Und zwar verdammt lange schon.
Tobias Heyl
Als ich Klaus Nüchtern das erste Mal in voller Lebensgröße sah, saß er in einem Café in der Meidlinger Hauptstraße und schrieb etwas in ein kleines schwarzes Buch. Ich hatte mich mit ehemaligen Kolleginnen getroffen, wir kreischten und lachten am Nebentisch und benahmen uns ganz allgemein so unwürdig, wie es nur Frauen über vierzig können. Gelegentlich warf ich einen Blick hinüber zum Poeten; der schrieb ungerührt weiter in sein Büchlein und verzog keine Miene. Nur gelegentlich ein leichtes, schmerzliches Zucken um die Mundwinkel …
Nicht ohne Bangen schlug ich einige Tage später den Falter auf. Doch kein Wort über johlende Weiber, die sich nicht altersgemäß verhalten und besser die Enkel hüten sollten. Stattdessen eine kleine, feine Betrachtung über die beschauliche Ruhe in der Prater-Hauptallee …
Da wusste ich: Der Mann ist Pädagoge, und zwar einer von der ganz ausgefuchsten Sorte. Keine Watschen, sondern Umarmungen. Wo der Wald-und-Wiesen-Kolumnist ätzt, gurrt Nüchtern. Wo andere Stilblüten sammeln, produziert er Metaphern wie der Stör den Kaviar. Wo geringere Talente höhnen, ist er Rhapsode.
Kriegt einer Kiefersperre angesichts Schlankheitswahn, Sushipest, Gourmetgesäusel, 3-Sterne-Inflation? Klaus Nüchtern brät Wurstschüsserl und lässt Schmalz aus.
Stößt es jemandem sauer auf ob peinlicher Weinkennerprosa? Klaus Nüchtern trinkt Bier.
Fühlt sich ein anderer von Maßschuhgeknatter, Tommy-Hilfiger-Anoraks, diagonal gestreiften Hemden, Frauen im Powerdress optisch belästigt? Klaus Nüchtern trägt Puma-Sneakers, schräge T-Shirts. Und Hosen, du glaubst es kaum.
Seufzen mindere Geister nach der Sonne? Klaus Nüchtern greift in die Saiten und preist Regen und Nebel. Kriegen Kulturmenschen Bauchgrimmen bei Beachvolleyballturnieren am Wörthersee? Klaus Nüchtern zeltet im Mühlviertel. Und zwar bei Wind und Kälte. Steigt manchem der Blutdruck bei Autolärm, Staus und Abgasen? Klaus Nüchtern fährt mit der Bundesbahn. Oder geht gleich zu Fuß.
So entsteht durch Extrapolation allgemach der Umriss eines Mannes von Welt: ein Gegenbild zu den schleimig-windigen (falls diese taktil gewagte Doppelung erlaubt ist) New-Economy-Fuzzis, denen man gern ein Downgrading in die Holzklasse verpassen würde. Ein Mann, der die Segnungen der Provinz in der Stadt zu finden weiß und das urbane Getue als das eigentlich Provinzielle entlarvt.
Zwar hetzt der Kolumnist im Rösselsprung zu Lesungen in halb Europa, zwar japst er im Stadtmarathon mit (hier, ich gesteh’s, kamen mir Bedenken), zwar schätzt er Burt Bacharach (!), doch was sollen diese Ausrutscher neben solch zivilisatorischer Leistung. Ein Nüchternologe der Zukunft sollte sie neben seinen Verdiensten als Literaturkritiker und neben dem 2006 erschienenen, weitum gepriesenen Roman nicht vergessen.
Für mich jedenfalls hat das schaurige Kürzel KHG eine neue, schönere Bedeutung erhalten. Es lebe das Dreigestirn wunderbarer Kolumnisten deutscher Zunge: K(laus Nüchtern), H(arald Martenstein), Max G(oldt).
Brigitte Hilzensauer
Den Geistesmenschen kennzeichnet in aller Regel eine depressive Grundpersönlichkeit, das heißt, das in tiefen Schichten fundamentierte Wissen um die Tatsache, dass das Leben trotz intensivster intellektueller Tätigkeit erstens endlich und zweitens scheiße ist. Vor dem sofortigen Suizid bewahrt den melancholisch Kundigen vor allem ein Mechanismus, den die psychoanalytische Terminologie „Regression im Dienste des Ich“ nennt, was nichts anderes bedeutet als den Rückgriff auf Verhaltensweisen einer Entwicklungsphase, in der noch Unendlichkeit und Wonne vorherrschten: Man frisst bis zum Aufstoßen, säuft bis zum Wegdämmern, spielt mit dem Geschlechtsorgan und brabbelt immer das Gleiche. Als Leser der Betrachtungen des Geistesmenschen Nüchtern weiß man um seine Neigung zu Bigos, Haggis, piemontesischem Schweinebauch und allen anderen Speisen, die apokalyptische Ausschüttungen von Gallenflüssigkeit zur Folge haben; man weiß um seine mit Sicherheit rein psychogene Fischallergie (von Fisch wird man halt im Allgemeinen nicht satt, und dass er fetten Karpfen und Räucheraal in Wahrheit tadellos verträgt, gibt er nicht zu) und darum, dass er naturtrübes Bier vor allem deswegen mag, weil es annähernd den gleichen Eiweißgehalt besitzt wie Muttermilch (Schnaps liefert die notwendige finale Sedierung. Über Nüchterns kindische Oenophobie wollen wir jetzt nicht reden); man weiß schließlich, dass er gelegentlich Masturbationsfreiräume für Büroangestellte fordert, und ist zugleich ein wenig froh darüber, dass einem der Grad seiner kulturellen Anpassung eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Frage nach den Spielarten der Genitalmanipulation bis dato erspart hat.
Aus abwehrtheoretischer Sicht schwer zu toppen wird Nüchtern freilich erst dort, wo er sich in jene Gefilde begibt, in denen Geistesmenschenexistenzen ihre eigentliche Grundlegung erfahren – an die Wurzeln der Sprache. Weitaus kühner als jene Schreibenden, die in ihrem Regredieren weitestenfalls in die Phase der Zwei- oder Dreiwortsätze, der interpunktionslosen Wortkaskade oder der paralogischen Assoziation gelangen, hechtet er zurück an den Anfang des zweiten Lebensjahres, dorthin, wo das Kind stabend beginnt, die Welt begrifflich zu fassen: „Mama“, „Papa“, „Gaugau“. Und wie eben ein sprachspielendes Kind Lust an seinen Hervorbringungen hat, so hat sie Nüchtern sichtlich auch: Unter „Konzentration kontemplativer Kräfte“ und „Schärfung sämtlicher Sinneswahrnehmungen“ trotzt er mit „Schmiss und Schwung“ sowohl „Mixmoguln“ als auch „Mineralmemmen“, sowohl „Zimtzicken“ als auch „akademisch ausgeschlafenen Auskennern“. Lust gibt Kraft, das kennt man, und für ein den Suizid aus Seinsverdruss abwehrendes Kulturwesen bedeutet das, aus der Regression durchzustarten und in die schiere Sublimierung abzuheben. Das führt dann dazu, dass wir den Autor dabei antreffen, wie er unter „kontrollierendem Kellnerauge“ „der Lektüre feministischer Romane durch den Verzehr von Rohscheiben und Rettich einen würdigen Rahmen verpasst“, bevor er „im Stadtpark Schnee auf schmusenden Schnurrbärten schmelzen“ sieht. Gelegentlich brechen noch archaische, körperbezogene Ängste durch, verursachen „Pinkelpanik“ oder eine „intestinale Insubordination“, lassen ab und zu ein „Darmdrangdrama“, wenn nicht sogar eine „Adventappendizitis“ befürchten. Letztlich ist jedoch das alles auf den „Fettfaschismus“ der „Brunello-Bagage“ zurückzuführen, einer „immer illuminierten illustren Interessengemeinschaft idiosynkratischer ibishotelinkarzerierter Intelligenzbestien“ – und wie man sieht, schwebt er schon wieder weit über dem Weh der Welt dahin, in den höchsten Sphären alliterativer Artefakte, und ganz gehörig „rauscht es durch seine Rübe“. Man selbst fühlt sich im Vergleich dazu zwar ein wenig wie ein „dröger Downtempo-Dachs“, aber ich denke, das macht nichts.
Paulus Hochgatterer
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