Blauregen-Opulenz nahe Sedan
Kirchturmspitzen ragen von fern in den Himmel, kleine Dörfer, teils hübsch restauriert, teils mit der Patina des unumkehrbaren Untergangs versehen, leuchten wie Edelsteine, manchmal leuchtet auch die Kontrolllampe wieder. In Bar-le-Duc regnet es, in Brillon-sur-Barrois schon nicht mehr. Ein Ortsname wie himmlischer Geigenklang. Das Waschhaus in Haironville verführt zum Fotografieren, die Brücke über das Flüsschen Saulx ebenso. Wasser plätschert, kein Champagner, aber es klingt so, als ob es welcher wäre. Und als einige Zeit später ein Schild auf Château Joinville am Wegesrand hinweist, wird erneut ein Tagesplan durchkreuzt, der keiner war. Merke: Wer morgens nicht weiß, wo er abends schlafen wird, muss keinen Plan haben. Der Morgen trägt ihn bis zur Dämmerung, die immer irgendwann irgendwo ein Ziel für ihn bereithält. In diesem Fall ein schönes Schloss in einer noch schöneren Stadt.
„Bonjour Madame, bonjour Monsieur. Bienvenue au Château du Grand Jardins Joinville.“ – Es ist ein Juwel von mehreren in der Champagne. Alle Welt spricht von den weißen Schlössern der Loire, vergleichbar wenige von den Châteaux de Champagne, und wenn, dann nur im Zusammenhang mit dem oft überbewerteten Prickelwasser. Dieses Schloss hier mag nicht die Strahlkraft eines Château Villandry haben, es ist kleiner, aber der große Renaissance-Garten mit seinem Bachlauf, den verschiedenen Gehölzen, hundertjährigen Bäumen und den Kunstwerken sowie einem romantisch um das Gebäude angelegten Park wird uns in Erinnerung bleiben, auch weil es gerade einen tüchtigen Schauer gibt, der andere Besucher davon abhält, zwischen Beeten und Bäumen im Schutz eines Regenschirms auf den Kieswegen zu flanieren. Draußen vor dem Tore perlen unzählige Tropfen auf dem Lack des R4 und funkeln wie Diamanten; es ist das einzige Auto, das hier gerade steht. Die Petites Cités de Caractère, die kleinen Städtchen, haben wirklich Charakter, das zeigt Joinville uns deutlich, und führe der Weg bei einer nächsten Reise wieder durch die Champagne, stünden auch Sézanne, Vignory und Châteauvillain auf der Wunschliste sehr weit oben. Ach nein, lieber nicht, ohne Plan ist die Wahrscheinlichkeit größer, sie auch wirklich anzusteuern …
Aber so viel sei vorweggenommen: Joinville ist erst der Anfang – wir werden noch einige weitere fulminante Entdeckungen in anderen kleinen Städten mit Charakter auf dieser R4-Exkursion machen. Die Quatrelle läuft. Ihr Motor schnurrt zufrieden, so als ob sie sich bedanken würde, dass sie auf ihres Mutterlandes Département-Straßen in die Gewissheit des Abenteuers geschickt wird, ja, es hat den Anschein, dass sie sich wirklich wohlfühlt. Nichts kann diesen tapferen Renault davon abhalten, bis an die Atlantikküste vorzudringen.
Wir kaufen Gift. Einem Mann ist nicht zu helfen. Wir haben die Schlange nie gesehen.
Wir haben so eine Ahnung, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis der Renault 4, unser treuer Blechbegleiter mit dem Hartplastikkühlergrill, eines Morgens von alleine startet und sehnlichst darauf wartet, dass wir – salzbuttercroissantgefettelt und Marmeladenreste in den Mundwinkeln tragend – endlich einsteigen, damit er die nächsten Boulevards der Träume ansteuern darf. Sein Motor klingt kernig jetzt, nach einigen Hundert Kilometern, als wir gegen halb zehn am Hotel „Auberge de la Pleine“ in La Rothière aufbrechen und aus der Tiefe der vier Zylinder pröttelnd dem frischen Morgen ein hübsches blaues Dünstlein verpassen. Es ist der Duft des Abenteuers. Wir schnüren dem Motor mit der Starterklappe die Luftzufuhr enger und knattern auf die D396 und D619. The Sound of Musik. In Ailleville verkauft eine Mutter mit ihren Kindern Maiglöckchen am Straßenrand. Wie nett sie winken. Keine dreihundert Meter weiter schon wieder ein Tischchen mit kleinen Sträußen, Kinder, Mutter und Mémé. Sie grüßen und lachen. Ja, den Renault 4, ihre Quatrelle, lieben sie hier in Frankreich abgöttisch, und wenn einer dann auch noch mit deutschem Kennzeichen durch ihre Heimat saust, huldigen sie dieser Ikone, als säße der Heiland persönlich am Steuer.
Dachten wir recht eingebildet. Stimmt aber nicht.
Ein Blick auf den Kalender hätte gereicht. Am Maifeiertag verkaufen Kinder kleine Blumensträuße als „porte-bonheur“, als Glücksbringer, für einen guten Zweck. Armen, Alten, Versehrten wird das Geld gegeben. Und es ist gleichfalls ein erster Frühlingsgruß, den sich manche ans Revers heften, andere in die Vase stellen. Ab Bar-sur-Aube, einem Städtchen im Département Aube, Teil der Champagne, duftet es im Fahrzeuginneren dann auch lieblich nach den weißen Blüten des Frühlingsbringers. Es ist ein Vergnügen, den Kindern beim Verkauf der Blumen zuzusehen. Unwillkürlich fliegt ein Gedanke nach Deutschland. Könnte das dort nicht auch eine schöne Tradition werden? Vermutlich nicht, weil Horden entsetzter Mütter und Väter auf der Straße protestierten, mit Plakaten und Flüstertüte ausgerüstet, weil das Maiglöckchen – ausgerechnet im Jahr 2014 vom Botanischen Sondergarten Hamburg-Wandsbek auch noch als „Giftpflanze des Jahres“ gekürt – ihre Lütten meucheln würde. „Finger weg, Kinder, das ist kein Salat!“ Allein der Anblick könne dazu führen, dass die toxischen Inhaltsstoffe aus den Pflanzensäften über die Pupille direkt in die Blutbahn der kleinen Racker fließt. Aus den weinerlichen Tönen der Helikoptererziehungsberechtigten würden sich Gesundheits- initiativen herausbilden, die eine Enquete-Kommission in der Bundesregierung zur Folge haben dürfte, woraufhin sich der Krankenkassenbeitrag schlagartig erhöht. Und das alles wegen eines Krautes, das übrigens nicht giftiger ist als im Discounter billig eingekauftes Spielzeug fernöstlicher Herkunft. Aber zumindest wäre die Katastrophe verhindert, dass die lieben Kleinen Maiglöckchen anfassen. In Frankreich dürfen sie das, und es ist kein Fall bekannt, in dem ein Kind noch am Abend des Feiertags mit Vergiftungserscheinungen in eine Klinik eingeliefert wurde, nur weil es diese Blumen verkaufte.
Spartanisches Interieur – immerhin mit Maiglöckchen
In Bar-sur-Aube sitzt eine Mutter auf den Treppenstufen ihres Hauses und schaut ihren Söhnen beim Verkaufen zu. Nur wer ein Herz aus Stein hat, würde an ihnen vorbeigehen, ohne einen Strauß zu kaufen. Zwei Euro. Ob die nun wirklich bei den Armen landen oder sich die Buben später davon ein Eis kaufen, ist gar nicht mehr so wichtig. Viel wichtiger bleibt festzustellen, dass die Jungs, sechs und zehn Jahre alt, in der Lage sind, freundlich Guten Tag zu sagen. Ist das nicht verrückt? Kinder, die Guten Tag sagen! Der Vergiftungsgrad scheint weit vorangeschritten zu sein, da kann doch was nicht stimmen. Und dann sogar noch ein „Merci“ und „Au revoir“ nachgeschoben, einfach so, aus heiterem Gemüt. Ob das ansteckend ist?
Herrgott, Bar-sur-Aube ist wirklich schön, mit und ohne Maiglöckchen. Die Baralbins müssen stolz auf ihre Stadt sein. Fassaden wie von Gauguin gemalt, schmale Gassen, die um Häuser führen, deren blaue Fensterläden die Strahlkraft des Himmels übertreffen, und am Vormittag fällt das Sonnenlicht durch die farbigen Fenster der Kirche Saint-Pierre wie göttlicher Segen auf den kalten Stein des im 12. Jahrhundert entstandenen Bauwerks. Burgundische Frühgotik. Die Pracht ist von außen weniger zu erkennen; Gottes Haus wirkt hier mehr wie eine wehrhafte Burg, wurde mit einer Holzgalerie versehen, die außen herum verläuft und die früher ganz irdisch den Händlern als Verkaufsraum diente. Aber kaum das Hauptportal durchschritten, hat dieses Meisterstück etwas Majestätisches. Nicht weit entfernt strömt gemächlich die Aube durch die Stadt. Auf dem Plateau von Langres brechen sich ihre Wasser in einer Höhe von kaum 380 Metern Bahn und fließen nach 248 Kilometern bei Marcilly-sur-Seine in die, ja, in wen wohl, in die Seine natürlich. Bar-sur-Aube ist wohl eines ihrer schönsten Ufer, daran besteht kein Zweifel. Und wenn ein Fluss nicht nur Städten, sondern einem ganzen Département seinen Namen gibt, muss das wohl einen hübschen Grund haben. Wir verlassen Bar-sur-Aube mit seinen Maiglöckchenverkäufern und bemalten Häusern und driften perlenwasserwärts über die Champagnerroute D74 nach Colombé-le-Sec.
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