Neue Zeiten, neue Katastrophen und Unruhen
Mit dem beginnenden Bauboom der Gründerjahre hielt in Berlin die Schlamperei beim Hausbau Schritt. 1865 starben innerhalb von drei Wochen 33 Menschen bei Neubaueinstürzen, was endlich zu einer Verschärfung der Baukontrollen führte. Dennoch forderte auch die moderne Technik ihren Preis. Am 2. September 1883, also immerhin 45 Jahre nach Einführung der gefährlichen Dampfrösser, erlebte die Stadt im Bahnhof Steglitz ihr erstes großes Eisenbahnunglück, das 43 Todesopfer forderte. Bei der Hochbahn hingegen vergingen nur sechs Jahre, bis es zu einem ersten Unfall kam. Am Bahnhof Gleisdreieck – zu dieser Zeit wirklich noch ein solches – fuhr am 26. September 1908 ein Zug einem anderen in die Flanke und stieß einen Waggon vom Viadukt in die Tiefe. 18 Passagiere starben dabei, und mehr als 20 wurden schwer verletzt.
Das erste Tunnelunglück am 9. Mai 1917 zwischen Alexanderplatz und Schönhauser Tor (Rosa-Luxemburg-Platz) ging mit dreißig Verletzten und einer großen Panik etwas glimpflicher aus.
Obwohl von Luftverkehr noch nicht die Rede sein konnte, kam es auch über der Stadt zu ersten Unfällen. Seit 1884 existierte das Ballon-Detachement der Schöneberger Eisenbahntruppen, das als spätere Luftschifferabteilung ab 1901 in Tegel stationiert war.
Anlässlich der Großen Gewerbeausstellung 1896 in Treptow führte der Leipziger Buchhändler Dr. Hermann Wölfert sein Luftschiff Deutschland vor, das nach mehreren geglückten Probefahrten am 12. Juni 1897 nach einer Vergaserexplosion abstürzte. Wölfert und sein Mechaniker starben. Fünf Monate später gelang dem Unteroffizier Jagels mit dem starren Luftschiff eines Holzhändlers aus Agram die Jungfernfahrt auf 350 Metern Höhe, bevor das Gefährt auf dem unbebauten Schöneberger Südgelände strandete. Graf Zeppelin war ein aufmerksamer Beobachter des Vorfalls. Er war auch mutig genug, 1911 in Karlshorst mit dem halbstarren Luftschiff SSL 2 der Siemens-Schuckert-Werke aufzusteigen. Im gleichen Jahr forderte der Motorflug in Johannisthal sein erstes Todesopfer. Vom dortigen Flugplatz riss der Wind am 4. März 1912 ein Parseval-Luftschiff samt Sicherungsseil und daranhängendem Ballonmeister mit sich. Erst hinter dem Karlshorster Luftschiffhafen blieben das Luftschiff und die Leiche des unglücklichen Ballonmeisters in den Baumkronen hängen. Am 17. Oktober 1913 schließlich explodierte das Luftschiff L 2 über Adlershof und verursachte den Tod von 25 Menschen.
Am Boden sorgten eher Feuer und Explosionen für mittlere Katastrophen. So stand das prächtige und moderne Hotel Kaiserhof schon wenige Tage nach seiner Eröffnung im Oktober 1875 in hellen Flammen. Allerdings war der Bau mit 2,75 Millionen Mark gut versichert, was Anlass zu mancherlei Verdächtigungen bot …
Weniger Schaden richtete im Mai 1894 das sogenannte Kaiserfeuer auf einem Bauernhof in Gatow an, wo Seine kaiserliche Majestät Wilhelm II. höchstpersönlich gerade mit seiner Dampfjacht Alexandria aufkreuzte und gemeinsam mit der Mannschaft das Großfeuer bekämpfte. Als ein ungläubiger Spandauer Feuerwehrmann äußerte: »Mann, det jloobste doch selber nich, dettste Wilhelm bist!«, bewies es ihm der Kaiser durch stramme Befehle – und vermutlich durch seinen zu kurzen Arm.
Am 7. Januar 1898 brannte die gerade modernisierte Borsigmühle an der Spree in Moabit. Kein Wasser vermochte die haushohen Flammen zu löschen. Die gesamte Spreefront des Riesenbaus stürzte zusammen mit dem großen Kran und einigen tausend Tonnen Roggen in den Fluss. Das Restgemäuer brannte noch 14 Tage und wurde schließlich gesprengt. Die Firma Borsig gab den Standort auf und zog nach Tegel. Die Tanklager auf dem Nobelshof im östlichsten Winkel von Rummelsburg wurden dagegen noch weitere fünfzig Jahre genutzt, nachdem dort im November 1910 drei Millionen Liter Benzin explodiert waren und wochenlang brannten.
Die soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten war nahezu unerträglich und führte zu immer neuen Unruhen. 1863 kam es zu Mieterunruhen am Moritzplatz, im März 1872 behinderte ein Streik den Bau der Siegessäule, und im Juni desselben Jahres kam es nach der Zwangsexmittierung eines Tischlers zu den Blumenstraßenkrawallen, bei denen 102 Polizisten zumeist durch Steinwürfe und 160 Zivilisten durch Säbelhiebe verletzt wurden. Die erregten Massen zerstreuten sich erst nach zwei Tagen, als das Polizeipräsidium mit dem Einsatz von Militär drohte. 33 »Aufrührer« wurden zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt.
Im Sommer 1885 streikten in Berlin 12 000 Maurer für höhere Löhne und für den Neunstundentag, fünf Jahre später waren es 40 000 Arbeiter, die für den Zehnstundentag in den Streik traten. Als die Polizei beim Moabiter Aufstand im September 1910 gegen streikende Kohlenarbeiter vorging, wurden zwei Menschen getötet und Hunderte verletzt. Bereits im Februar desselben Jahres hatte der Polizeipräsident von Jagow Versammlungen unter freiem Himmel verboten, vermochte damit aber am 6. März nicht, den Treptower Wahlrechtsspaziergang von 150 000 bis 200 000 Berlinern gegen das Dreiklassenwahlrecht zu verhindern. Die Polizei sprach von 15 000, die dem Aufruf der Sozialdemokraten gefolgt waren. Der Vorwärts erwartete spöttisch, dass Jagow die Zahl nochmals halbieren würde, um schließlich zu verkünden, »dass seine Reiter ihre wilden Angriffe nur gegen das gewöhnliche Sonntagspublikum im Treptower Park verübt haben«.
Von der Kriegseuphorie zu Bombenkrieg und Vernichtung
Dass der Beginn des Ersten Weltkrieges in der Reichshauptstadt eine allgemeine Kriegseuphorie auslöste, ist bekannt. Zeitgenössische Quellen bieten ein differenzierteres Bild, fanden doch noch in der Woche vor der Mobilmachung an 28 Versammlungsorten in der Stadt machtvolle Friedenskundgebungen der Sozialdemokraten statt, deren Teilnehmer anschließend von der Polizei in heftige Auseinandersetzungen verwickelt wurden. Auch vor den Sparkassen kam es zu Unruhen, Tausende wollten über ihre Guthaben verfügen, und Berlins Taschendiebe sorgten für ihren persönlichen Anteil daran.
Rasch verflog bei den skeptischen Berlinern die tatsächlich vorhandene Kriegsbegeisterung. Schon im Mai 1915 demonstrierten Frauen vor dem Reichstag für den Frieden, im Oktober brachen die ersten Unruhen wegen der Lebensmittelknappheit aus. Die Rationierung und der Kohlrübenwinter 1916/17 verschärften die Situation. Am 16. April 1917 folgten 300 000 Arbeiter dem Aufruf der Metallarbeitergewerkschaft zum Generalstreik, im Januar 1918 streikten die Munitionsarbeiter. Am 9. November schließlich wurde die deutsche Republik gleich zweimal ausgerufen; die Kontrahenten Sozialdemokratie und Spartakusbund (seit Januar 1919 Kommunistische Partei KPD) verstrickten sich in Auseinandersetzungen, die im Januar und März 1919 zu bewaffneten Kämpfen mit zahlreichen Toten unter den Linken führten. Von nun an gehörte Gewalt endgültig zum festen Repertoire politischer Konfrontation.
Von allen Bränden in Berlin ist der des Reichstags am 27. Februar 1933 in nachhaltigster Erinnerung geblieben. Ihn und seine Folgen zu beschreiben, bedarf es einer ganzen Bibliothek. Die These von der Alleintäterschaft des Holländers van der Lubbe hat sich noch immer nicht überzeugend gegen die Version der SA-Brandstiftung durchgesetzt. Kapital jedenfalls schlugen die Nationalsozialisten aus dem Brand, der ihnen Anlass zur Verhaftung Tausender Andersdenkender bot. Nur zehn Wochen danach zeigten sie bei einem nächsten Feuer, wes Ungeistes Kind sie waren. Am 10. Mai 1933 brannten auf dem Opernplatz die Bücher jüdischer, kommunistischer und linksbürgerlicher Autoren – ein schauriges Flammenzeichen für das Kommende. Die unterirdische Bibliothek auf dem heutigen Bebelplatz erinnert an die Bücherverbrennung.
Ihre nächste Brand- und Vernichtungsaktion bezeichneten die Nationalsozialisten euphemistisch als »Reichskristallnacht« – ein Pogrom gegen alle jüdischen Kultstätten und Geschäfte, dem beinahe alle Synagogen in der Stadt zum Opfer fielen. 12 000 Juden wurden in die KZ verschleppt; die systematische Vertreibung und Vernichtung begann.
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