Am nächsten Tag waren die Rädelsführer geflohen. Nach langen Verhandlungen akzeptierten die Parteien das vom Leipziger Schöppenstuhl abgesegnete Urteil, das einen Kompromiss darstellte. Den Cöllnern und Berlinern blieb die Religionsfreiheit erhalten.
Der zersprungene Pulverturm
Einen breiten Raum nimmt in Jakob Schmidts Sammlungen Berlinischer Merck- und Denckwürdigkeiten der zersprungene Pulverturm ein, eine Katastrophe von beachtlichen Ausmaßen. Berlin war zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Garnisonstadt mit über 4000 Mann Militär. Obwohl nach dem Dreißigjährigen Krieg ausgedehnte Stadtbefestigungen um Berlin, Cölln und den Friedrichswerder herum errichtet worden waren, deren Spuren sich noch heute im Berliner Stadtbild finden, standen noch immer Teile der ältesten Befestigungsanlagen von Cölln und Berlin. So wurden die beiden Türme der nördlichen Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert in der Burgstraße an der Spree und am Spandauer Tor als Pulvertürme genutzt.
Im Sommer 1720 sollte nun der Pulverturm beim alten Spandauer Tor abgebrochen werden, nachdem der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. 1717–19 die neuen königlichen Pulvermühlen und das Pulvermagazin nach Moabit an die Spree vor dem Unterbaum hatte verlegen lassen – auf das Areal des späteren Lehrter Bahnhofs. Zwei Dutzend Artilleristen räumten den Turm aus; der Explosionsgefahr wegen trugen sie nur Filzsocken und durften nicht rauchen.
Ein zeitgenössischer Stich, der auch die Post, die in dem fatalen Moment vorbeifuhr, und den blessierten Wallschmied abbildet, dessen Haus getroffen wurde, vermittelt zusammen mit der ausführlichen Bildlegende einen treffenden Eindruck von dem schrecklichen Vorgang. Es handelt sich dabei um den wahrhaften Bericht über die Explosion, der sich wie folgt liest:
Prospect desjenigen Theils der Stadt Berlin, ohnweit dem Spandauer Thor, wie selbiger bei dem erbärmlichen Unglück, so daselbst am 12. August 1720, zwischen 10 und 11 Uhr vormittags durch Zerspringung eines Pulverthurms passiret, anzusehen war. Dieser Thurm zersprung in fünf Stücke, wovon die dick gemauerte Spitze das Kirchen Haus und Lazareth in den Grund darnieder schlug. Das eine Theil warf in dem damals von Herrn Obrist von Glasenapps Wohnung das halbe Dach und eine Ecke des Hauses nieder, das andere Theil schlug die halbe Garnison-Schule zu Boden, und machte in der Kirche eine große Öffnung. Das dritte Theil schlug des Herrn Hofraths Kühnens Hauses Obertheil und die Ruppiner Herberge nieder. Das vierte Theil traf die Hospital Ecke, auch die Heilige Geist Kirche. Der jämmerlich ertödteten Menschen waren in Summe 72 Personen, worunter 35 Soldaten Kinder, so in der Schule höchst erbärmlich zerquetschet worden ferner des Rectoris 12jähriger Sohn, so eben im unglücklichen Augenblick bei der Schule gewesen, des Küsters Kind samt ihm … Die etlichen 40 Verwundeten sind mehrentheils wieder genesen.
Nicht einmal das Fernsehen könnte exakter sein in der Berichterstattung. Im Übrigen wurde noch 24 Stunden danach ein sechsjähriges Kind lebend unter den Trümmern hervorgezogen; einen Fremden in der Ruppinischen Herberge barg man erst nach drei Tagen unverletzt. Der König selbst, der willens gewesen war, die Soldaten im Pulverturm zu beaufsichtigen (und mit dem Stock anzutreiben), entging dem Tod nur dadurch, dass er sich auf der Wachtparade verspätet hatte. Die Vorsehung hatte in die deutsche Geschichte eingegriffen. Immerhin war der Soldatenkönig tief erschüttert, und das wollte bei dem Mann etwas heißen!
Der Ort der Explosion befand sich etwa auf der Straßenmitte der heutigen Spandauer Straße, dort, wo sie als Straße An der Spandauer Brücke quer über den einstigen Standort der abgerissenen Garnisonkirche – der heute wieder Garnisonkirchplatz heißt – abbiegt.
Explosionen kamen bei der Pulverherstellung häufiger vor, weshalb die Pulvermühlen und Magazine 1716 vor die Stadt ins unbesiedelte Moabit verlegt wurden. Als im Oktober 1760 russische Truppen für fünf Tage Berlin besetzten (die nächsten Russen blieben 49 Jahre), erhielt ein Offizier mit 25 Mann den Befehl, diese preußischen Pulvermühlen zu demolieren. Der Trupp rückte weisungsgemäß ab und »verunglückte spurlos«, wie die Chronik düster zu berichten weiß.
In Berlin aber stürzten Türme auch ohne die Einwirkung von Explosivstoffen ein. Das berühmteste Baudesaster war der Abriss und Einsturz von Schlüters Münzturm auf dem Schlossplatz an der Hundebrücke. Das vorauszusehende Ereignis kostete den Baumeister seinen Job, dabei war der Berliner Baugrund wirklich nicht der beste. Die Kuppel auf dem Turm der Parochialkirche stürzte 1698 ein, im August 1734 traf es den Turm der neuerbauten Petrikirche. Dennoch liebten die preußischen Herrscher hoch aufragende Bauten und wollten auch die 1701 auf dem Gendarmenmarkt erbauten Kirchen mit Kuppel nach römischem Vorbild geschmückt sehen. In der Nacht zum 28. Juli 1781 fiel der Turm der Neuen Kirche (heute der Deutsche Dom) mit Getöse in sich zusammen.
Die Hochzeitskatastrophe von 1823
Die bleiernen Jahre nach den Befreiungskriegen waren keine glückliche Zeit für die preußische Metropole und ihre Einwohner. Die Hochzeit des Kronprinzen, des späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., mit der katholischen bayrischen Prinzessin Elisabeth am 29. November 1823 sollte das erste große Fest seit langer Zeit werden. Zugleich fand die Einweihung der Schinkelschen Schlossbrücke mit ihrem kunstvollen Geländer statt, die sich noch ohne die Figuren an Stelle der alten Hundebrücke über den Kupfergraben schwang. Vor dem Zeughaus hatte man eine Säulenhalle für 300 Ehrenjungfrauen errichtet. Noch war die neue Brücke für den Wagenverkehr gesperrt. Bei der abendlichen Illumination kam das Gerücht auf, überhaupt niemand dürfe die Brücke passieren. Die Menschenmenge, voller Angst, etwas von dem Schauspiel zu verpassen, drängte panikartig zum Kupfergraben, wo eine schmale Notbrücke die einzige Verbindung zum Lustgarten bot. Der Platz und die Brücke waren dem Ansturm nicht gewachsen. Das Geländer zum Spreekanal am Zeughaus hielt nicht stand; die Menschen wurden von den Nachdrückenden ins eisige Wasser gestoßen. Schreie gellten durch die Dunkelheit. Alle wollten sehen, was vorn passiert, und drängten immer mehr über die Uferkante. Das Fazit: dreißig zertretene, ertrunkene, erfrorene Kinder und Frauen. Kein gutes Omen für die Ehe des künftigen Königs, die denn auch kinderlos blieb.
Schon im Juli 1709 hatte der Einsturz der Cavalierbrücke (in der Nähe der heutigen Liebknecht-Brücke) 18 Menschenleben gefordert, von den Geretteten »sind die meisten bald darauf gestorben …«. Versammelt hatten sich die Berliner damals, um das Feuerwerk zu Ehren des Sieges Peters des Großen über die Schweden zu sehen.
Am 29. Juli 1817 brannte das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt vollständig aus; in der Nacht vom 18. zum 19. September 1843 erleuchtete der Brand des königlichen Opernhauses Unter den Linden die Stadt taghell. Beide Gebäude wurden schnell wiederaufgebaut.
Die Zeiten wurden immer unruhiger. 1845 gab es am Hamburger Tor in der heutigen Torstraße Steinwürfe gegen die Ordnungsmacht, 1846 die Kartoffelrevolution am Oranienburger Tor. Berlin näherte sich unaufhaltsam der Märzrevolution von 1848, deren Erfolge so mager ausfielen wie die aller Revolutionen in Deutschland.
Böse Zungen sprechen von zwei wesentlichen Ergebnissen: Der König wurde gezwungen, den Hut vor den gefallenen Märzkämpfern zu ziehen, und am Brandenburger Tor brannte der hölzerne Zirkusbau nieder. Die Reaktion schien endgültig zu triumphieren. Es sollten weitere vierzig Jahre vergehen, bis endlich auch Bismarcks rigide Sozialistengesetze der Vergangenheit angehörten. Daran, dass Berlin die Hauptstadt einer stockreaktionären Monarchie blieb, änderte auch das nichts.
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