Dass beide Brüder waren, hätte niemand vermutet, der sie nebeneinanderstehen sah. Moritz war nicht nur acht Jahre älter als er, er war auch ein ganz anderer Typ Mensch. Später sollte einmal jemand sagen, Moritz Kempinski erinnere ihn irgendwie an Hindenburg, während Berthold eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Peter Lorre habe. Jedenfalls war das eine Gesicht streng und kantig, das andere rund und gemütlich. Seine braunen Knopfaugen machten ihn außerordentlich liebenswert, und manche bedauerten, dass er nicht als Komiker auf der Bühne stand.
Berthold Kempinski zögerte ein wenig, die Ladentür aufzuziehen und einzutreten. Er fühlte sich wie im Gymnasium, wenn er etwas ausgefressen hatte und zum Rektor musste, um seine Strafe in Empfang zu nehmen. Was würde Moritz heute an ihm auszusetzen haben? Dass seine Schuhe staubig waren, dass sein Haar nicht glatt genug gekämmt war? Der Bruder schien nur das eine Ziel zu haben: ihn zu seinem Ebenbild zu machen. Alle fragten, was er denn dagegen hätte, es könne ihm doch nur zum Vorteil gereichen, doch tief im Innern fühlte er, dass er in allem viel begabter war als Moritz und im großen Spiel des Lebens nur verlieren würde, wenn er sich dem anderen anpasste.
Schon verfluchte er sich, die Reise nach Breslau gemacht zu haben, und überlegte, ob er sich die Zeit bis zu ihrer Rückfahrt nach Ostrowo nicht lieber mit einem Rundgang durch die Breslauer Museen vertreiben sollte, als sein Bruder ihn entdeckte und zur Tür ging, um sie aufzuziehen.
»Na, traust du dich nicht rein?«
Berthold wollte die ernsthafte Antwort geben, die von ihm erwartet wurde, sah sich aber dazu, blockiert wie er war, auch nach einigen Sekunden des Nachdenkens völlig außerstande. »Doch, aber der Verkauf von alkoholischen Getränken an Jungen, die noch nicht majorenn sind, ist schließlich verboten, und ich möchte nicht von einem Schutzmann abgeführt werden.«
»Ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht behelligst wirst«, erklärte ihm der Bruder.
Der Ernst, mit dem er dies tat, schien Berthold völlig überzogen, nicht einmal die Staatsmänner beim Wiener Kongress hatten eine solche Ernsthaftigkeit an den Tag gelegt. Moritz war nicht einmal dreißig Jahre alt, wie wichtigtuerisch würde er sich erst geben, wie griesgrämig würde er sein, wenn er seinen fünfzigsten Geburtstag feierte? Berthold dankte seinem Gott, dass er nicht so war wie Moritz. Aber Moritz war sein Bruder, und wie sagte Raphael Kempinski immer? »Man muss die Menschen so verbrauchen, wie sie sind.«
Moritz ließ ihn eintreten, begrüßte ihn mit einem geschäftsmäßigen Händedruck und führte ihn durch die Räume. Sein Stolz, es so weit gebracht zu haben, war ihm deutlich anzusehen.
Berthold gönnte ihm den Erfolg. Das fiel ihm umso leichter, als er von der Gewissheit erfüllt war, den Bruder in zwanzig Jahren gehörig übertrumpft zu haben. »Abgerechnet wird zum Schluss«, war eine der Lieblingswendungen ihres Vaters.
»Der Ungarwein ist eine Wissenschaft«, erklärte Moritz Kempinski und setzte, während sich sein Gehilfe um die Kunden kümmerte, zu einem längeren Vortrag an. »Ungarn hat eine sehr alte Weinbaukultur. Die Griechen brachten die Rebstöcke von Südosten her ins Land, die Donau und die Theiß aufwärts, die Römer kamen von Westen und bauten Wein in der Pannonischen Ebene an, bis hin zum Plattensee. Und obwohl Vandalen, Goten, Tartaren und Türken das Land besetzten und verwüsteten, wurde weiterhin Wein angebaut. Karl der Große war vom ›Awarenwein‹ hellauf begeistert. Die Türken verboten zwar das Weintrinken, ließen aber den Anbau weiterhin zu und nahmen Steuern dafür ein. Die Kirche des Mittelalters spielt die wichtigste Rolle bei der Verbreitung des Weines.«
»Nun …« Berthold lachte, erinnerte an die Mizwa des Weintrinkens im jüdischen Glauben und tat dann so, als würde er Hawdala über einen Becher Wein sprechen: »Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, Schöpfer der Frucht des Weinstocks.«
Moritz ging nicht auf den Einwurf seines Bruders ein. »Die geographische Breite Ungarns entspricht in etwa dem französischen Burgund, was aromatische Weißweine ergibt. Der viele Sonnenschein begünstigt aber auch die Herstellung von Rotwein.« Damit öffnete er die Tür zu den ausgedehnten Kellerräumen und stieg die Stufen hinunter. »Die Flaschen sind nach Anbaugebieten geordnet. Hier haben wir Àszàr-Neszmély, dahinter Balatonfüred-Csopak, gegenüber Mecsekalja und Szekszàrd.«
»Und Essbesteck?«, murmelte Berthold nach einer Weile.
»Nie gehört.« Moritz Kempinski stutzte und schien über seine Wissenslücke erschüttert zu sein. »Wo soll denn das liegen?«
»Na, auf dem Tisch.« Das Lachen verging ihm, als er den bösen Blick seines Bruders bemerkte, und er wollte einlenken. »Entschuldige, aber Essbesteck ist das einzige ungarische Wort, das ich behalten habe, als Vater neulich Besuch aus Eger hatte.«
Dieser kleine Scherz machte die Sache noch schlimmer, und wortlos stieg sein Bruder die Treppen hinauf. Oben im Laden gab es aber nur weiteren Ärger für ihn, denn dort stand der Notar Louis Leichholz und beschwerte sich, dass man ihm die längst bezahlten sechs Flaschen Tokajer noch immer nicht geliefert habe.
Moritz Kempinski entschuldigte sich mit einer knappen, aber zackigen Verbeugung. »Ich bitte vielmals um Pardon und werde auf der Stelle meinen Bruder losschicken.«
Berthold zuckte zusammen. Es war eine Gemeinheit, ihn hier als Diener zu missbrauchen. Andererseits konnte er sich diesem Befehl nicht widersetzen, ohne den Bruder noch weiter zu erzürnen. So nickte er, ließ sich vom Gehilfen den Korb mit den Flaschen in die Hand drücken und setzte sich in Marsch.
»Du weißt ja gar nicht, wo Herr Leichholz wohnt«, rief ihm Moritz hinterher.
Berthold blieb kurz stehen. »Nu, wo soll er wohnen bei seinem Namen: am Friedhof natürlich.«
»Weidenstraße 11!«, kam es donnernd.
Berthold erkundigte sich bei einem Schutzmann nach dem Weg und trabte los. Ring, Ohlauer Straße, Christophorusplatz … Weit war es nicht, aber sechs Flaschen Wein wogen eine ganze Menge. So erreichte er sein Ziel ziemlich echauffiert und fluchte leise vor sich hin, weil niemand öffnete, so heftig er auch am Klingelzug riss. In der Anwaltskanzlei schienen alle schwerhörig zu sein. Oder aber sie waren allesamt aus dem Haus, um ihr Mittagessen einzunehmen. Berthold hatte keine Lust, seine Last wieder zurück zu seinem Bruder zu schleppen, aber wo sollte er sie deponieren? Stellte er den Korb in den Hauseingang, hatten sich bald Liebhaber edlen Rotweins gefunden, die einen kleinen Diebstahl für durchaus legitim hielten. Also wartete er. Vielleicht kam irgendwann ein Mitbewohner nach Hause, der so vertrauensvoll aussah, dass man den Wein bei ihm deponieren konnte. Es kam aber niemand, und Berthold Kempinski verfluchte langsam seine Idee, mit Professor Lagow für einen Tag nach Breslau zu fahren.
Nach etwa zehn Minuten drängte sich ein junger Mann an ihm vorbei, vielleicht fünf Jahre älter als er, ein Student ganz offensichtlich, und zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche.
»Entschuldigung, wohnen Sie hier?«, fragte Berthold Kempinski.
»Nein.«
»Dann …« Berthold Kempinski warf einen Blick auf das Schlüsselbund.
»Nein, ich bin kein Einbrecher.« Er schloss die Augen, und es dauerte einen Augenblick, bis er seinen Text vollkommen zusammen hatte. »Das Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben, ist das einzige sichere Mittel, seines Lebens froh und dabei doch auch lebenssatt zu werden.«
»Ist das von Ihnen?«
»Nein, von Kant. Ich studiere nämlich Philosophie.«
Berthold Kempinski konnte beim besten Willen keinen Zusammenhang zwischen Kant und dem Öffnen der Haustür in der Weidenstraße 11 erkennen. Also schlug er den spöttischen Ton an, den er so sehr mochte. »Ah, und das hier sind die Schlüssel zum Verständnis von Kant, Hegel und Nietzsche?«
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