»Ja, ohne sie wäre ich verloren, denn nur ihr Gebrauch sichert mir die Alimentierung durch meinen Vater. Er ist nämlich Anwalt und Notar, und ich muss für ihn vieles in der Juristischen Fakultät nachschauen. Wenn ich ihm die Ergebnisse meiner Recherchen abliefere, gibt es immer wieder einen neuen Scheck.«
Berthold lächelte. »Dann sind Sie also der Herr Leichholz junior.«
»Und Sie der Bote des Weinhändlers Kempinski.«
»Ja und nein.«
Leichholz lachte. »Das ist ja wie eine Kasche. Lassen Sie mich überlegen. Das Ja heißt, dass der Rotwein hier tatsächlich von M. Kempinski geliefert wird, das Nein aber beinhaltet die Aussage, dass Sie kein Bote sind. Was dann? Weniger als ein Laufbursche? Nein, so sehen Sie nicht aus. Also muss es mehr sein. Sollten Sie Kempinskis Sohn sein? Nein, dann müsste er schon im Alter von weniger als zehn Jahren Vater geworden sein. Also ein Neffe? Möglich, aber wegen des geringen Altersunterschiedes eher unwahrscheinlich. Also ein Bruder. Aber wo ist da die Ähnlichkeit?«
»Die gibt es nicht, da muss ich Ihnen beipflichten. Aber es gibt ja auch Brüderpaare, die keine Zwillinge sind.«
»Damit gestehen Sie also, Moritz Kempinskis jüngerer Bruder zu sein?«
»Ja, gestatten: Berthold Kempinski, Gymnasiast aus Raschkow beziehungsweise Ostrowo.«
»Angenehm. Leopold Leichholz, Student der Philosophie aus Breslau.«
Damit begann eine Freundschaft, die erst enden sollte, als ihr gemeinsamer Gott einen von ihnen heimgeholt hatte in die Ewigkeit.
Überall in Europa rumorte es. Im Juni 1862 ernannte Zar Alexander II. seinen Bruder, den Großfürsten Konstantin, zum Statthalter in Kongresspolen, das formal noch immer als Königreich bestand. Als er befahl, polnische Männer für die russische Armee zu rekrutieren, brach im Januar 1863 der Aufstand los. Nicht nur Adlige stellten die Führer, auch Bürgerliche mischten kräftig mit. Eine »Provisorische Nationalregierung« rief das ganze Volk, »das gestern Büßer und Rächer war und morgen Held und Riese sein wird«, zum Widerstand auf. In den Wäldern versammelten sich kleine Trupps, und unter der Führung von Langiewicz begann ein Guerillakrieg gegen die Russen. Etliche ihrer Garnisonen wurden im Handstreich genommen.
Dies war der Stand der Dinge, als Witold Klodzinski zu Berthold Kempinski in die Stube stürmte, die er von der Witwe Jastrau gemietet hatte.
»Du, ich habe gehört, dass Ludwik Mierosławski nach Polen kommen wird und sie ihn zum Anführer ausrufen wollen!«
Berthold Kempinski sah den Freund verständnislos an. »Wer ist Ludwik Mierosławski?«
»Was, du kennst ihn nicht!« Vorwurfsvoll, fast böse hatte Klodzinski das ausgerufen. »Wo Mierosławski sogar 1848 bei der Märzrevolution dabei gewesen ist.«
»Entschuldige, da war ich gerade fünf Jahre alt.«
Witold klärte ihn auf. Geboren worden war Ludwik Mierosławski 1814 in Frankreich als Sohn einer Französin und eines emigrierten polnischen Offiziers. Seit 1820 lebte er in Kongresspolen und war schon 1830, gerade sechzehn Jahre alt geworden, als Fähnrich am Novemberaufstand gegen Russland beteiligt. Nach dessen Niederwerfung flüchtete er nach Paris, um dort später ins Zentralkomitee der polnischen Emigranten gewählt zu werden. 1846 und erst recht im April und Mai 1848 kämpfte er in der Stadt Posen und an verschiedenen anderen Orten, so vor allem in Baden als General und Oberbefehlshaber der dortigen Revolutionsarmee gegen die preußischen Truppen. Nach dem Fall der Festung Rastatt im Juli 1849 ging er in die Schweiz und von dort weiter nach Paris, wo er als Privatlehrer arbeitete. Bis ihn 1861 Giuseppe Garibaldi rief und im Unabhängigkeitskampf der Italiener den Oberbefehl über eine internationale Legion anvertraute. Danach war er Kommandeur der polnischen Militärschule in Genua geworden.
Mit dem Satz »Man nennt ihn den polnischen Napoleon« schloss Witold Klodzinski seine Ausführungen. »Und nun ist er zurück, um sein Vaterland von den Russen zu befreien, und ich werde morgen früh losziehen und mich seinen Truppen anschließen.«
Berthold Kempinski schwieg. Er war zutiefst beeindruckt vom Feuer, das in Witold loderte. Dagegen war geradezu läppisch, was ihn bisher bewegt hatte: Luise Liebenthal zu besitzen oder genügend Geld zu haben, um die Weinhandlung seines Bruders aufzukaufen und sich an dessen Stelle zu setzen.
Witold Klodzinski begann die polnische Nationalhymne zu singen. » Jeszcze Polska nie zginela … Noch ist Polen nicht verloren,/In uns lebt sein Glück./Was an Obmacht ging verloren,/bringt das Schwert zurück.«
Berthold Kempinski war an sich jedes Pathos zuwider, und normalerweise hätte er das Gesicht verzogen, aber bei dem Freund war das alles derart echt, dass er es nicht wagte. Außerdem war er in hohem Maße ergriffen. Er begann, Witold um dessen Patriotismus zu beneiden. Das war etwas, an dem man sich festhalten konnte. Einen solchen Anker für seine Seele hatte er nicht. Als echter Deutscher konnte er sich nicht fühlen, zu diskriminiert waren die Juden in Preußen noch immer, und seine Distanz zum Judentum war zu groß, da kam wenig von innen. Wie glücklich musste einer wie Witold sein, der keine Sekunde zögerte, sein Leben für das Glück seines Volkes herzugeben.
»Willst du nicht mitkommen?«, fragte der Freund und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Warum eigentlich nicht? Was hab ich groß zu verlieren …«
Raphael Kempinski kam aus dem Krankenzimmer, nachdem er seiner Frau eine Hühnersuppe gebracht hatte, der man nachsagte, dass sie Kraft gab. Sie siechte immer schneller dahin. Dr. Dramburger wusste keinen Namen für ihre Krankheit. Bis jetzt hatte Raphael Kempinski das Leben gemeistert, indem er immer und überall seinen Humor einsetzte. Starb aber das Liebste, was er hatte, unter so entsetzlichen Leiden, dann half ihm auch der nicht mehr. Blieb ihm nur, sich in die Arbeit zu flüchten. So stieg er in sein Kontor hinab und machte sich daran, seine Geschäftsbücher durchzugehen und nachzutragen, was noch auf dem Schreibpult lag.
Er hatte gerade eine halbe Stunde über allem gebrütet, da wurde kräftig gegen die Haustür geklopft. So früh schon der erste Kunde? Das konnte nicht sein. Er stand auf und trat in die Diele. Seit in Posen und im angrenzenden Schlesien immer wieder Menschen spurlos verschwanden, war er vorsichtig geworden und fragte erst, wer da wohl sei.
»Ein Bote aus Ostrowo, von Professor Lagow.«
Raphael Kempinski fühlte, wie sein Herz aussetzte. »Ist was mit Berthold?«
»Ja, er ist weg, nach Kongresspolen rüber, und will zu den Aufständischen.«
»Mein Gott!« Raphael Kempinski musste sich festhalten, sonst wäre er nach vorn gestürzt. Es dauerte Sekunden, bis der Schwindel vorüber war und er dem Jungen aus Ostrowo öffnen konnte. »Komm rein und erzähl mal, was passiert ist.«
Der Junge trat ein, nahm die Mütze ab und erstattete Bericht. »Die Witwe Jastrau wacht auf und macht Frühstück. Sie ruft nach Berthold. Keine Antwort. Sie sieht in seiner Stube nach – das Bett ist leer. Da erinnert sie sich, dass der Pole, der am Abend da war, sein Freund Witold Klod … Klod …«
»Lass, nur weiter!«
»Der wollte also zu den Soldaten rüber, zu den Polen, und gegen die Russen kämpfen, und da ist der Berthold nun mit.«
»Man muss ihn aufhalten!«, schrie Raphael Kempinski.
»Ja, das sagt der Professor Lagow auch, und er ist mit dem Herrn Rabbiner Ungar zusammen hinterher … Sie haben sich eine Kutsche gemietet und sind ab nach Kalisch.«
»Ich muss ihnen nach!«
Raphael Kempinski entlohnte den Boten, informierte dann den inzwischen eingetroffenen Kommis und lief zur Apotheke. Sein Freund Eduard Schlüsselfeld verfügte über Pferd und Wagen. Als er hörte, was vorgefallen war, ließ er hurtig anspannen.
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