Zum Familienalltag gehörten auch die Studenten, die mit im Hause wohnten, die hier als Privatschüler unterrichtet und beköstigt wurden und die oft aus wohlhabenden oder gar adligen Häusern stammten und deren Raum im zweiten Stock heute noch mit ihren hinterlassenen Wappen geschmückt ist.
Und dann gab es eine Fülle von außerordentlichen Besuchen. Schon in der Zeit der alten Bude interessierten sich die Universitäten aus Frankreich und England für Melanchthon.11 Kamen Gesandtschaften von dort ins Haus? Inzwischen war Melanchthon ja zu einer europäischen Gestalt geworden. Wenn er von Reichsstädten oder Fürsten um Rat gefragt, zur Arbeit an einer Kirchenordnung oder zur Mitarbeit bei der Reform einer Universität eingeladen wurde – wurden diese Bitten nicht durch Boten überbracht?
Melanchthonhaus und Leucorea
Alle kamen sie durch die Diele, und auch das Arbeitszimmer war für die Kinder nicht tabu. Das ganze weltbewegende Geschehen der Reformation – es spielte sich in diesem Haus immer auch vor den neugierigen Augen der Kinder ab.
Es gibt eine wunderschöne Anekdote von Melanchthon, die mich in dieser Annahme bestärkt. „In Melanchthons Arbeitszimmer spielten noch 1555 kleine Mädchen – wahrscheinlich die Enkelinnen Anna (geb. ca. 1552) und Magdalena Peucer (geb. 1554) –, so Melanchthons Schilderung, die er in eine Verlesung einstreute: ‚Ich habe meine Mädchen daran gewöhnt, sich nicht zurückzuhalten zu pinkeln in meinem Arbeitszimmer, wenn ich allein bin; wenn aber Fremde da sind, sollen sie dies auf keinen Fall tun’“.12
Ob die Kinder mit den Scholaren zusammen am Tisch saßen, wie drüben im Schwarzen Kloster bei Luther und seiner Familie? Jedenfalls muss es unter dem Dach dieses Hauses ein buntes Zusammenleben von Kindern und Schülern gegeben haben. Nicht umsonst heiraten beide Töchter Schüler des Vaters.
Es gibt Berichte von Zeitgenossen, die unserer Phantasie weiteres Material liefern und die zu unseren Fragen passen: „Die Zahl der Tischgenossen war wohl immer groß … Mathesius, der 1540 eine Zeitlang an Käthes Tisch speiste, schildert uns auch, wie es damals bei Melanchthons zuging. Da betete vor Tisch Lippus ein lateinisches Gebet, und sein Schwesterchen Magdalena las aus Luthers deutschem Katechismus vor, und dann kamen die Knaben, der eine mit einer Legende, der andere mit der Heiligen Schrift, ein dritter mit einem Abschnitt aus den Evangelien, ein vierter mit dem Livius, der fünfte mit einem alten Griechen, es war wohl Thucydides, der sechste mit dem Psalter, und alle standen um den Herrn Magister Philippus herum, als wäre er ein Orakel, das sie befragen müssten“.13 Schwesterchen Magdalena ist damals neun Jahre alt, Lippus, Melanchthons ältester Sohn Philipp, fünfzehn, und daran schließen sich bruchlos die Knaben an, die Schüler des Vaters.
Zum bunten Leben in diesem Haus gehören auch die düsteren Farben. Georg, das dritte Kind, stirbt 1529 mit drei Jahren. Nach seiner Geburt geht es Katharina sehr schlecht. Der Vater drückt seine Trauer in ergreifenden Worten schriftlich aus: „Nichts war mir jemals im Leben teurer als dieser Knabe. Denn es leuchtete in ihm eine einzigartige Begabung. Welchen Schmerz ich durch den Verlust erlitten habe, kann ich mit Worten nicht ausdrücken“.14 Auch das haben die beiden älteren Geschwister miterlebt.
Ich muss gestehen, dass mir diese Vorstellung gefällt: Kinder nicht abgeschirmt in einer Wohnung mit den Einheitsdimensionen des sozialen Wohnungsbaus oder in einem Einfamilienhaus mit einem Zaun drum, gehegt und gehütet – sondern einbezogen in eine Welt, in der viele Dimensionen des Lebens und der Gesellschaft gegenwärtig sind: sei es im Henkerhaus oder im Haus des Strafanstaltsdirektors oder in Melanchthons Wohnhaus. Deswegen wohl ist das Bild von dieser geräumigen Diele bis heute mit mir gegangen und hat mich zu weiterem Forschen und Fragen angehalten.
Auch hier die Frage: Wie sind die Kinder von Melanchthon und Luther angesehen worden? Sie haben miteinander gespielt.15 Aber Luthers Kinder waren Kinder eines Mönchs und einer Nonne. Sie standen damit im Kreuzfeuer zwischen Altgläubigen und Anhängern der Reformation. Wie ihre Väter und Mütter lebten sie unter verschärfter Beobachtung.
Melanchthonhaus, Diele: das innere Foyer
Wenn man heute durch das Melanchthonhaus geht, dann ist das Schwarze Kloster, Luthers Haus und Wirkungsstätte, allgegenwärtig mit dabei. Das war damals auch schon so. Es gab einen Weg vom Garten hinter dem Melanchthonhaus hinüber zum Klostergarten. Die Kinder hatten es leicht, sich zu verabreden, sich zu besuchen, miteinander zu spielen.16
Aber auch die Väter lebten in einer kollegialen Freundschaft und Nachbarschaft miteinander. Dabei hatte Luthers Haus die größere Attraktion. Es gab Zeiten, da saß Philipp Melanchthon „wochenlang Abend für Abend an Luthers Tische“.17 Wenn Luther und Melanchthon, ihre Ehefrauen und ihre Kinder, ständig miteinander in Beziehung gesetzt und verglichen werden, so sind dabei ihre Häuser immer auch mit im Spiel.
Melanchthon wohnte in einem nagelneuen Haus. Der Kurfürst hatte es ihm 1536 gebaut, auf einem Grundstück, das seiner Frau Katharina gehörte und auf dem in den ersten Jahren ihrer Ehe die kleine Bude stand, in der sie sehr bescheiden wohnten. Das neue Haus kann den Vergleich mit den Häusern wohlhabender Handwerker und Kaufleute aushalten. Es steht gleichsam in ihrer Tradition. Seit Beginn seiner Lehrtätigkeit in Wittenberg 1518 hat Melanchthon dafür geworben, dass seine Kollegen Studenten bei sich zu Hause aufnehmen.18 Schon bald darauf hatte er bei sich Studenten aufgenommen und damit eine Art Wohngemeinschaft gegründet. Jetzt im neuen großen Haus und mit diesen Vorerfahrungen im Rücken kann Melanchthon seine Vorstellungen von einem modernen, an humanistischen Idealen ausgerichteten Studienbetrieb wie auf dem Reißbrett verwirklichen. Er nimmt ständige Hausschüler bei sich auf und gründet eine „schola domestica“, eine Hausschule.19
Bei Luther sieht das ganz anders aus. Er bewohnt das Schwarze Kloster. Das war ein alter, weitläufiger Bau, immer wieder umgebaut, auch zu Luthers Zeiten. Nach Auflösung des Augustinerklosters hatte der Kurfürst es Luther 1524 überlassen. Hier musste er sich mit seiner Ehefrau Katharina 1525 einrichten.
Als Mitte dieses Hauses wird das Studierzimmer, die Lutherstube, gezeigt. Im selben ersten Stockwerk ist die Disputationsaula zu sehen, Luthers Hörsaal. Aber es gibt auch bei Luther noch eine andere Mitte des Hauses: den Tisch, um den sich die wachsende Familie versammelt, zusammen mit den Mitbewohnern des Hauses und den Gästen, zweimal am Tage, zum Mittagessen und zum Abendessen. Ein Tisch von gewaltigen Ausmaßen, stelle ich mir vor, oder auch mehrere Tische, denn im Haus wohnen nicht nur eine stattliche Anzahl Studenten, sondern je länger je mehr auch in Not geratene Verwandte Luthers, darunter eine ganze Anzahl Kinder.
Man muss also, noch deutlicher als bei Melanchthon, ein Haus mit zwei Schwerpunkten vor sich sehen: dem Studienbetrieb und der groß angelegten Haushaltung, dem Tisch. Und wie der Hochschulbereich durch eine ungeheuere Anzahl von Schriften dokumentiert ist, so der Tisch durch Luthers Tischreden, die in sechs Bände der Weimaraner Ausgabe gesammelt sind.
Beide Häuser sind je auf ihre Art Laboratorien einer neuen Epoche, einer neuen Verbindung von Familienleben und Universität, einer neuen Pädagogik und neuer theologischer Grundentscheidungen.
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