Ich wartete. Dann lösten die Wolken sich auf, meine Augen gewöhnten sich allmählich an das matte Licht. Ich erkannte, dass ich zwischen zwei mächtigen Pfostenlöchern stand, die sich blass im Kies abzeichneten. Der Wind hatte eine feine Sandschicht über die dunklen Humusflächen gelegt. Die schöne Gestalt war fort, die Schatten, die ich eben noch die Erdhügel auf und ab laufen sah, verschwunden. Die Stille erschreckte mich, kein ferner Hammerschlag mehr, Stille. Der Wind schwieg und dennoch fühlte ich ihn leicht in meinem Gesicht.
Ich stand im Eingang des am Tage zuvor frei geschobenen Hauses, links und rechts neben mir die kräftigen Pfosten, vom Sand zugedeckt, aber schwach erkennbar. Die Frauengestalt muss in dem Haus gestanden haben, wenige Meter von mir entfernt, umgeben von Pfostenlöchern, die einst die Wand gebildet hatten. Etwas hinderte mich in dieser dunklen Nacht, durch die Eingangspfosten in das Haus hineinzugehen, in dem einst Menschen gelebt hatten. Benommen von dem unwirklichen Ereignis legte ich mich schlafen.
Am anderen Morgen erwachte ich schwer. Ich spürte Sand zwischen meinen Zähnen. Draußen hörte ich das knirschende Schaben von Schaufeln im Kies.
Mein Grabungsteam hatte damit begonnen, den Sand von den dunklen Pfostenlöchern zu schaufeln. Dann aufgeregtes Rufen, jemand klopfte ungeduldig an den Bauwagen, offenbar verwundert über mein spätes Erwachen.
Im Kies hinter den Eingangspfosten inmitten des Hauses hatten sie eine Perle gefunden. Ich wusste sofort, noch bevor ich sie betrachten konnte, es war die blaue Perle, die die schöne Frau in der Nacht zwischen ihren Lippen gehalten hatte. Als ich sie sah, glänzte sie im Licht des frühen Morgens. Und in meiner Handfläche fühlte sie sich feucht an.
Äußerlich nahm ich Anteil an der Freude meines Teams über den Perlenfund, jedoch blieb bei mir das stille Erstaunen über das nächtliche Ereignis, über das ich mit niemandem sprach. Das schöne Gesicht mit den toten Augen jedoch erschien mir immer wieder im Schlaf, wenngleich das Ereignis sich nicht wiederholte, so oft ich mich auch nachts in das Grabungsgelände begab.
Es sollte viel Zeit vergehen, bis ich meine Ruhe wieder fand. Als Wissenschaftler schwankte ich zwischen der mystischen Erfahrung dieser Nacht und der Suche nach einer Erklärung. Wer würde einen Wissenschaftler ernst nehmen, der sich phantastischen Erscheinungen hingab? Und doch: Durch die nächtliche Erscheinung der schönen jungen Frau fand ich meine Arbeitshypothese, die ich nur noch beweisen musste. Ich erinnerte mich an Skelettfunde mit Perlen im knöchernen Kiefer, für die die archäologische Wissenschaft lange keine Erklärung hatte. Unbeachtet lagen die Schädel in den Archiven, kleine Hinweisschilder an den Kieferknochen befestigt, die auf die einst im Schädel liegende Perlen hinwiesen. Die Perlen selbst entfernt und in den Asservatenkammern der Museen verwahrt.
Durch die nächtliche Schöne fand ich den Zusammenhang. Ich fand heraus, dass man in früher Zeit den Toten Glasperlen unter die Zunge legte. Die leeren, gläsernen Augen der Frau hatten mich darauf hingewiesen. Und die nasse blaue Perle zwischen ihren lächelnden Lippen.
Die Perlen unter der Zunge waren das Entgelt für den Fährmann, der die Toten mit seinem Kahn über den Fluss ins Totenreich bringen sollte.
Die Geschichte erzähle ich erst jetzt, da alles bewiesen ist.
Vorher hätte mir niemand geglaubt.
Ich denke, auch Sie nicht.
„Die Kinder schlafen“, sagt der Mann freundlich, „wenn Sie nur ab und an nach ihnen sehen würden. Sie können sich in der verbleibenden Zeit mit Ihrer Arbeit befassen.“ Er lächelt. Marga forscht in seinem Gesicht. „Gönnerhaft, gönnerhaft ist das Lächeln“, hatte Eberhard gesagt, ohne es je gesehen zu haben. Sie sucht in diesem Lächeln. „Ist noch was?“, fragt der Mann und zögert. Irritiert greift sie nach ihrer Mappe, legt die Arbeitsbücher auf den Küchentisch. Sein Lächeln ist verschwunden, ohne dass sie das Gönnerhafte gefunden hätte.
„Ich werde für das Examen lernen“, sagt sie leise und blättert in einem ihrer Bücher.
„Und nehmen Sie sich etwas zu trinken, wir werden heute länger ausbleiben.“
Seine Frau hat die Küche betreten, ihre Absätze klappern auf den Fliesen. Als die Haustür ins Schloss fällt, steht ein Parfümduft in der Küche, der sich mit den Küchengerüchen mischt.
Nach den Kindern sehen. Das ist ihre Aufgabe. Marga zieht ihre Schuhe aus, stellt sie seitlich der Küchentür auf den Flur, ordentlich und nebeneinander. Sie hätte direkt vom Flur aus über die Treppe in das obere Stockwerk der Villa gehen können, um nach den Kindern zu sehen. Sie benutzt den Umweg über das Wohnzimmer, greift nach dem Lichtschalter, der große Deckenleuchter erhellt den Raum. Kristall an der Zimmerdecke. „Echte Teppiche sind es“, hatte die Frau bei ihrem ersten Besuch in der Villa gesagt, als sie sah, dass Margas Blick an den Teppichen hängen blieb. Was sind echte Teppiche? Marga weiß, es sind weiche Teppiche mit schönen Mustern und sanften Farben. Jetzt, allein in der Villa, stellt Marga einen Fuß in ein Muster hinein, rollt die Zehen zusammen. Dort, wo sie die Zehen gerollt hat, wird das Rot des Teppichmusters ein wenig dunkler. In der Mitte des Raumes liegt der größte und weichste Teppich, Marga weiß, dass es eine Fransenbürste gibt für diesen Teppich. Vielleicht wird sie später die Fransen bürsten. Einfach so, weil es schön ist. Marga hat sie gezählt: acht Teppiche liegen dicht nebeneinander in dem großen Wohnraum, hohe Fenster, edle, dunkle Möbel, alte Möbel. Marga zieht den Geruch des gewachsten Holzfußbodens ein und schließt die Augen.
„Hast du dich mal gefragt, woher das alles kommt?“, hatte Eberhard gesagt, als sie ihm von der Villa erzählte. Eberhard hatte sie bei den Schultern gepackt, sie geschüttelt. „Konfisziert natürlich, konfisziert! Und von wem? Denk nach!“ Eberhard war sehr aufgeregt gewesen, aufgebracht. „Eisengießerei, gegründet 1938! Überlege, wessen Kinder du hütest!“
Sie hatte damals geschwiegen, wollte das alles nicht hören. Es war schön in dem Haus, die Leute freundlich und die Bezahlung gut. Schließlich bekam siekeine Schecks von zu Hause. Der alte Trotz wegen der Schecks, den sie auch damals im Streit empfunden hatte, kriecht wieder hoch.. „Du bist unser Aushängeschild, Marga! Arbeiterklasse und klug! Du darfst dich nicht verkaufen, du verrätst unsere Idee! Das ist Establishment pur!“ – beschwörend hatte er sie angesehen.
Erst hatte sie geschwiegen, was sollte sie dazu sagen? Dann hatte sie versprochen, nicht wieder in die Fabrikantenvilla zu gehen. Es war ganz einfach, er hatte ihr sofort geglaubt.
Die Füße auf dem Teppich! Keiner darf es wissen! Es ist so gut, die Füße in dem weichen Teppich zu spüren! Und es ist gut, dass es keiner weiß.
Die Kinder schlafen, auf dem Küchentisch die Bücher: Mittelhochdeutsche Grammatik. Sie gießt sich Wasser aus der Leitung in einen Becher. Hier lernt es sich gut, es ist ruhig hier, Konzentration ist möglich. Und die braucht sie für die grammatischen Regeln. Sie muss das Examen schaffen. Hier sieht keiner, wenn sie für die Klausur lernt. Keine Rechtfertigungen. Mittelhochdeutsche Grammatik für das Examen. Sie will es schaffen. Drei Stunden bis jetzt, sie schaut auf die Küchenuhr. Das wird ein guter Verdienst. Sie ist zufrieden. Und die anderen müssen es ja nicht wissen. „Ich bin das Aushängeschild“, denkt Marga. So hatte Eberhard gesagt.
Ihre Füße werden kalt auf dem Fliesenboden der Küche. Sie gönnt sich eine Pause, steht auf. Im Flur der schicke Mantel an der Garderobe, sie schlüpft in die zierlichen Schuhe, die unter der Garderobe stehen, hoher Absatz, edles Leder. Der Mantel dazu, Pepitamuster, schwingender Saum. Sie dreht sich vor dem hohen Garderobenspiegel, aus dem Mantel steigt leichter Parfümgeruch. Im Bad sind Kämme, sie steckt ihre Haare hoch, Lippenstift, Pepita. Sie dreht sich seitlich zum Spiegel, das Kragenrevers schlägt sie hoch, neigt den Kopf mit der gesteckten Frisur über die Schulter, versucht verführerisch in den Spiegel zu schauen. Ein Schmollmund gehört dazu. Das kennt sie aus Filmen. So. Ja, so einer.
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