In Pakistan leitete der islamistisch eingestellte General Zia ul-Haq nach einem Militärputsch 1977 die schrittweise Islamisierung des Landes ein. Die Scharia wurde zur Grundlage des Strafrechts. Das Ergebnis dieses Islamisierungsprozesses können wir im heutigen Pakistan beobachten, wo die beispiellose Verfolgung und Ermordung Andersgläubiger und Andersdenkender durch Justiz und einen regelmäßig aufgebrachten Mob an der Tagesordnung sind, wie nicht zuletzt der traurige Fall der Christin Asia Bibi zeigt. 31
Als eigentliches Fanal für die Ausbreitung des Islamismus können drei Ereignisse des Jahres 1979 gelten:
• Anfang des Jahres kehrte der im Pariser Exil lebende Ajatollah Khomeini in den Iran zurück und stellte sich an die Spitze der Aufstandsbewegung gegen den Schah. Das war der Startschuss für die islamische Revolution, in deren Folge Khomeini die Islamische Republik Iran ausrief.
• Im November besetzten bewaffnete Islamisten die Große Moschee in Mekka und riefen zu Aufständen in der gesamten islamischen Welt auf.
• Im Dezember marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, um die kommunistische Führung des Landes an der Macht zu halten.
Die Revolution im Iran blieb nicht ohne Auswirkungen auf die restliche islamische Welt und die dortigen islamistischen Kräfte. Die Erfahrung, dass Widerstand erfolgreich sein und die Islamisierung von Staat und Gesellschaft gelingen kann, sollte fortan fester Bestandteil des innerislamischen Diskurses sein. 32
In der sunnitischen Welt sah man den schiitischen Iran zwar als religiösen Gegner, galt der Schiismus doch als häretische Strömung, aber die Tatsache, dass es ausgerechnet diesem gelungen war, einen islamischen Staat und ein „islamisches Gemeinwesen“ aufzubauen, schuf einen zusätzlichen Anreiz für sunnitische Islamisten. Die heute weitgehend in Vergessenheit geratene Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch 500 schwer bewaffnete Islamisten nur wenige Monate nach dem Sturz des Schahs von Persien kann als erste sunnitisch-islamistische Reaktion auf die Ereignisse im Iran gelesen werden. Ziel war der Sturz des saudischen Königshauses und ein die gesamte islamische Welt umfassender islamischer Staat. Die Aufständischen riefen alle Muslime dazu auf, in ihren Ländern dem Islam und seiner Rechtsordnung zum Durchbruch zu verhelfen, die diplomatischen Beziehungen zum Westen abzubrechen und die Öllieferungen an die USA einzustellen. Diese Forderungen entsprachen fast wörtlich den Ideen, die der islamische Rechtsgelehrte und Gründer der islamistischen Hizb ut-Tahrir , Taqī ad-Dīn an-Nabhānī (1904–1978), in seinem programmatischen Hauptwerk „Die Ordnung des Islam“ (Nizam al-Islam) 33festgelegt hatte – einem Verfassungsentwurf für einen islamischen Staat, der unter Islamisten bis heute diskutiert wird.
Die Besetzung der Moschee konnte von der saudischen Regierung letztlich nur mithilfe französischer Spezialkräfte und nach zweiwöchigen schweren Kämpfen beendet werden.
Der saudische König Chalid hatte dafür eine Fatwa angefordert, die den Einsatz militärischer Gewalt und „Ungläubiger“ innerhalb Mekkas und der heiligen Stätten ausdrücklich erlaubte. 34Im Normalfall dürfen Nichtmuslime die Stadt nicht einmal betreten. Im Gegenzug für die Fatwa wurde den Islamgelehrten mehr Macht im Inland und Unterstützung für die Missionierung im Ausland zugesagt. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Islam in Saudi-Arabien selbst immer rigider ausgelegt, gleichzeitig nahm die wahhabitische Propaganda, finanziert durch Petrodollars, bis dahin ungeahnte Ausmaße an. Mittels Moscheenbau, Schulen und Lehrmaterial wurde und wird islamistische Propaganda nach Europa getragen.
Mit dem Bürgerkrieg in Afghanistan tat sich ein weiteres Feld für Islamisten auf. Zwar fand hier ein Stellvertreterkrieg zwischen den beiden Machtblöcken USA und UdSSR und ihrer Verbündeten statt, aber mit dem Islamismus kam gleichzeitig eine Ideologie ins Spiel, die sich sowohl vom Ost- als auch vom Westblock abgrenzte, eine Tatsache, der sich mitten im Kalten Krieg kaum jemand bewusst wurde. Und so kam es, dass vom Westen ausgerechnet jene Islamisten mit Waffen ausgerüstet wurden, die ihre Bomben nur wenige Jahre später gegen genau diesen einsetzen sollten. Die Anschläge auf die US-Botschaften in Tansania und Kenia im Jahr 1998 waren die ersten gegen die USA geführten Anschläge von Osama bin Ladens Gruppe. In Daressalam starben dabei elf Menschen, 85 wurden verletzt. In Nairobi starben 213 Menschen, rund 4500 wurden verletzt.
Der Krieg in Afghanistan entwickelte sich zu einem internationalen islamistischen Kampf, der mit dem Aufbau eines Finanzierungs- und Rekrutierungsnetzwerks einherging, das später auch in Tschetschenien, auf dem Balkan und im algerischen Bürgerkrieg genutzt werden sollte. 35Kämpfer aus nahezu allen mehrheitlich islamischen Staaten, aber auch Muslime aus der Sowjetunion und Westeuropa strömten nach Afghanistan. Rund 30 Jahre später werden über das gleiche dschihadistische Netzwerk Kämpfer aus aller Welt nach Syrien und in den Irak geschleust werden. Das Netzwerk zog aber nicht nur Kämpfer an, es entließ sie nach einiger Zeit auch wieder als ausgebildete Dschihadisten mit ausgezeichneten Verbindungen in ihre Heimatländer. Das trug ebenso zur Verbreitung islamistischer Vorstellungen bei wie die Arbeitsmigration in die Staaten des Golf-Kooperationsrates (Saudi-Arabien, Bahrain, Katar, Kuwait, Oman und Vereinigte Arabische Emirate). Von dort brachten viele der Millionen Arbeitsmigranten eine fundamentalistische Lesart des Islam zurück in ihre Heimatländer.
› Die Ausbreitung islamistischer Vorstellungen und der damit verbundene gesellschaftliche Wandel in mehrheitlich islamischen Ländern ist mittlerweile unübersehbar.
Das Straßenbild hat sich seit Ende der 1970er-Jahre sichtbar verändert. Sah man früher noch eine bunte Vielfalt auf den Straßen, Frauen und Männer gemeinsam in den Cafés sitzen und auf den Boulevards flanieren oder in Badekleidung an den Stränden, 36so prägen heute, sieht man von bestimmten Gegenden und modernen Vierteln großer Städte ab, zunehmend ein homogenes, puritanisch islamisches Outfit und entsprechende Verhaltensvorschriften die islamische Welt.
Unter den vielen 1954 aus Ägypten flüchtenden Anhängern der Muslimbruderschaft befand sich auch Said Ramadan (1926–1995), der Schwiegersohn des Gründers der Bruderschaft. Ramadan war in der Folge maßgeblich am Aufbau der Strukturen der Muslimbruderschaft in Europa beteiligt. Ähnlich wie bei der späteren Unterstützung der Taliban betrachtete die westliche Politik die ägyptische Muslimbruderschaft als Verbündete im Kampf gegen den sowjetischen Einflussbereich, dem Ägypten unter Nasser zuzurechnen war. Diese Situation konnte Said Ramadan nutzen, um unter anderem das „Islamische Zentrum Genf“ (1961) und das „Islamische Zentrum München“ (1973) 37aufzubauen. Das Genfer Zentrum wird bis heute von seinem Sohn Hani Ramadan geleitet. Die Muslimbruderschaft verfügte somit über zwei Stützpunkte in Westeuropa. Von München und Genf ausgehend überzogen sie Europa in den folgenden Jahrzehnten mit einem dichten Netzwerk, dem aktuell etwa 200 Organisationen und Institutionen zugerechnet werden können.
Ein weiterer Sohn Said Ramadans ist Tariq Ramadan. Er steht für einen neuen Aufbruch der Muslime in Europa und die Betonung der muslimischen Identität. Das Ziel, so Ramadan, sei nicht mehr die Integration in die bestehende Gesellschaft, sondern die Partizipation, um der Gesellschaft eine islamische Alternative anzubieten. Mit solchen Aussagen avancierte er zum Star vieler junger Muslime und Musliminnen in Europa. Bei Jugendorganisationen, die ein unkritisches Verhältnis zur Muslimbruderschaft aufweisen und im Jugend-Dachverband der Muslimbruderschaft FEMYSO organisiert waren oder sind, wie etwa die französische Union des jeunes musulmans (UJM), die „Muslimische Jugend Österreichs“ (MJÖ) oder die „Muslimische Jugend in Deutschland“ (MJD), war er gern gesehener Gast. Hinter seiner moderaten Fassade verbargen sich stets fundamentalistische Ansichten. So warnte Ramadan etwa vor den Inhalten des Biologieunterrichts, da sie der islamischen Lehre widersprechen könnten. Eltern rief er dazu auf, die Kinder durch Vermittlung des Kreationismus dagegen zu immunisieren. Zudem fiel er auch dadurch auf, dass er die Körperstrafen der Scharia, wie etwa die Steinigung von Ehebrecherinnen, relativierte und es ablehnte, sie zu verurteilen. 38
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