Während christlich bewohnte Gebiete des Reiches diese Entwicklung begrüßten, gerieten erstmals Millionen Muslime unter nicht islamische Herrschaft. Man kann hier aus islamischer Perspektive von einer historisch neuen Situation sprechen, die im theologisch-politischen Konzept des Islam nicht vorgesehen war. Nie zuvor mussten muslimische Gesellschaften unter nicht islamischer Herrschaft leben. Es ist leicht nachvollziehbar, dass der Verlust der Weltmachtstellung in der islamischen Welt zu einem tiefen Trauma führte.
› Diese gravierenden Veränderungen weckten den Ruf nach einer Rückbesinnung auf die als glorreich überlieferte Frühzeit des Islam, mit dem Ziel, die verloren gegangene Größe und Dominanz in der Welt zurückzugewinnen.
Es waren verschiedene islamische Denker, die als Reaktion auf diese Krise eine rückwärtsgewandte Utopie entwickelten 26, die als Vorläufer der heutigen islamistischen Bewegungen betrachtet werden kann. Im 19. Jahrhundert entstanden auch die ersten modernen puritanischen Bewegungen, wie etwa die Deobandis in Indien. Letztlich liegt dem Islamismus der Versuch zugrunde, die Diskrepanz zu beseitigen, die sich aus erlebter Realität einerseits und dem Glauben an die von Gott versprochene Weltherrschaft des Islam andererseits ergab.
Neben der rückwärtsgewandten puritanischen Bewegung entwickelte sich auch eine Denkrichtung, deren Ziel Modernisierung und Weiterentwicklung war. Der albanischstämmige osmanische Vizekönig von Ägypten, Muhammad Ali, suchte den Anschluss an die europäische Moderne. Zwischen 1826 und 1831 entsandte er eine große Expedition nach Paris, mit dem Auftrag, dort Wissen zu sammeln. Darauf aufbauend modernisierte er das Land am Nil mit eiserner Hand. Einer der Teilnehmer der Expedition, der ägyptische Gelehrte Rifa’a Rafi at-Tahtawi, beschäftigte sich in seinem Reisetagebuch mit den zivilisatorischen Errungenschaften Europas und sprach sich für eine Bildungsoffensive in der islamischen Welt aus, ohne dabei die westliche Kultur zu übernehmen. 27
Etwa 120 Jahre nach Napoleons Ägyptenfeldzug kam es 1924 zum zweiten traumatischen Einschnitt: die Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal Pascha (1881–1938), der später mit dem Ehrennamen „Atatürk“ bedacht wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs versuchten Großbritannien und Frankreich, das verbliebene anatolische Kernland des Osmanischen Reiches zu zerstückeln, große Teile sollten an Griechenland, Frankreich, Italien und Armenien gehen. Dagegen mobilisierte Mustafa Kemal den militärischen Widerstand. Nach dem Sieg gegen die Alliierten, der die Türkei als Staat in seinen heutigen Grenzen sicherte, baute er das Land zum Nationalstaat nach europäischem Vorbild um. Das beinhaltete auch die gewaltsame Zurückdrängung des religiösen Establishments, um dessen politische Macht zu brechen. Die religiöse Gemeinschaft der Umma wurde durch eine nationalistische Identität ersetzt.
Mit der Abschaffung des Kalifats war die sunnitische Welt ihres geistigen Oberhaupts beraubt worden. Seit den Tagen Sultan Selims I., also seit mehr als 400 Jahren, hatte sich der Sitz des Kalifen in Konstantinopel/Istanbul befunden. Vier Jahre nach der Abschaffung des Kalifats gründete Hasan al-Bannā wie erwähnt in Ägypten die Muslimbruderschaft, die sich fortan als islamistische Massenbewegung erfolgreich über Ägypten hinaus ausbreitete und binnen weniger Jahrzehnte zur einflussreichsten islamistischen Bewegung entwickeln sollte. Die tunesische ENNAHDA ist ebenso ein Ableger der Muslimbruderschaft wie die Hamas , die „Islamische Aktionsfront“ in Jordanien, die FIS in Algerien oder die „Nationale Islamische Front“ im Sudan.
Aber auch in der Türkei selbst blieb in religiösen Kreisen der Glaube an die Wiedererrichtung des Kalifats virulent. Seit die AKP mit Erdoğan die Wahlen gewinnen konnte, ist die ideologische Rückbindung an die Zeit des Osmanischen Reichs und an das Kalifat unübersehbar geworden. Deutlich wird das auch am Versuch, den kemalistischen Nationalmythos, die Schlacht von Çanakkale (Gallipoli) im Jahr 1915 in einen Sieg des Islam umzudeuten. Galt diese Schlacht im modernen türkischen Nationalbewusstsein als Sieg der türkischen Nation über die Alliierten und damit als Geburtsstunde der modernen Türkei, so wird sie im Denken türkischer Islamisten nun zu einem Sieg über die „Ungläubigen“. Ein Narrativ, das auch in türkischen Moscheen in Westeuropa präsent ist. 28In islamistischen Kreisen wurde Atatürk stets als Feind des Islam betrachtet und mitunter bezichtigt, ein Jude zu sein. Die Abschaffung des Kalifats konnte man sich nur als eine Verschwörung vorstellen. Unter Erdoğans Führung ist eine zunehmende Abwendung vom bislang übermächtigen Gründervater der Türkei zu bemerken.
DIE ISLAMISIERUNG DER ISLAMISCHEN WELT
Zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren erlangten alle vormals kolonisierten islamischen Staaten die Unabhängigkeit. Vor allem die Staaten Nordafrikas und der Levante orientierten sich in der Folge an europäischen politischen Systemen. Sozialismus, Nationalismus und verschiedene Mischformen, wie etwa jene der syrischen oder irakischen „Baath-Partei“, hatten ab den 1940er-Jahren Konjunktur, konnten aber letztlich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ihrer Länder nicht lösen. Spezifische, über Jahrhunderte verfestigte autoritäre Strukturen – von der Führung bis auf die untersten Ebenen der Gesellschaft –, Klientelwirtschaft, Korruption und ein damit zusammenhängender Mangel an Gesellschaftsbildung standen dem wirtschaftlichen Aufschwung im Weg und ließen weite Bevölkerungsschichten verarmen.
Das eröffnete der islamistischen Bewegung zahlreiche Entfaltungsmöglichkeiten. So sorgte die Muslimbruderschaft in Ägypten in weiten Regionen für medizinische Versorgung, Armenspeisungen und Schulbildung. Überall dort, wo der Staat abwesend war, war die Bruderschaft zur Stelle und propagierte über Wohltätigkeitsprogramme auch islamische Moral- und Gesellschaftsvorstellungen. Sie mobilisierte auch für die islamische Erweckung Ägyptens gegen die britische Okkupation und gegen den „dekadenten westlichen Einfluss“. Die Parole „Der Islam ist die Lösung!“ wurde dabei zum Leitspruch. Der Kampf der Muslimbruderschaft richtete sich auch gegen den städtischen, modernen Teil der Bevölkerung, der sich ebenfalls Unabhängigkeit von Kolonialherrschaft, aber gleichzeitig eine demokratische Zukunft und individuelle Grundrechte wünschte. Hasan al-Bannā formulierte das Ziel der Organisation in fünf Leitsätzen, die bis heute gelten: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.“
Ab den 1940er-Jahren etablierte die Muslimbruderschaft einen militärischen Arm. Dieser führte eine Reihe von Anschlägen durch, die 1948 zu einem Verbot der Bruderschaft führten. Im folgenden Jahr wurde Hasan al-Bannā von unbekannten Tätern ermordet. 1952 unterstützten die Muslimbrüder den Putsch der sogenannten „Freien Offiziere“ unter Gamal Nasser. Mehrere der Offiziere gehörten der Bruderschaft an, darunter auch der spätere Präsident Sadat. Doch schon bald nach der Machtergreifung kam es zu ersten Zerwürfnissen zwischen Nasser und der Bruderschaft. Schließlich wurde die Bruderschaft 1954 neuerlich verboten. Nach einem kurz darauf gescheiterten Attentat auf Nasser setzten massive Verfolgungen der Muslimbrüder ein. Unter anderem landete ihr wichtigster Vordenker, Sayyid Qutb, im Gefängnis, wo er seine einflussreichen Hauptwerke verfasste. 29
Diese Ereignisse sind für die Ausbreitung des Islamismus in Westeuropa von entscheidender Bedeutung, denn in der Folge flüchteten zahlreiche Anhänger der Muslimbruderschaft nach Europa oder in die USA und wurden dort als politische Flüchtlinge anerkannt. Als Nassers Stern 1967 nach der desaströsen Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg sank, begann der neuerliche Aufstieg der Muslimbruderschaft in Ägypten. Der Nasserismus und der Panarabismus waren gescheitert. Die Muslimbruderschaft versuchte fortan, trotz eines nach wie vor bestehenden Verbots, auch die Universitäten und mit ihnen die städtischen Eliten zu erreichen, und es gelang ihr, Teile des Bildungsbürgertums für sich zu gewinnen. 30
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