• Imagination einer idealisierten weltweiten islamischen Gemeinschaft (Umma),
•Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen Religionen/Weltanschauungen und Gesellschaftsvorstellungen,
• Ablehnung von liberaler Demokratie, allgemeinen Menschenrechten sowie der Trennung von Religion und Staat,
• Gleichwertigkeit von Männern und Frauen vor Gott, aber unterschiedliche Rechte und Pflichten im Diesseits,
• Opferrolle der Muslime als weltweit angegriffener Gemeinschaft.
Die Prämissen der Ideologie werden von den unterschiedlichsten islamistischen Gruppen in verschiedener Gewichtung geteilt und sind mit einer antimodernen und antiaufklärerischen Grundeinstellung verbunden, zu der auch Verschwörungstheorien gehören.
Der Islamismus kann als islamischer Puritanismus 17beschrieben werden. Er sieht in der islamischen Überlieferung von Koran, Sunna (Sammlung der Mohammed zugeschriebenen Aussprüche und Handlungen) und Prophetenbiografie ( Sira ) die verbindliche Grundlage für soziale Normen, die allesamt als gleichermaßen wichtig und notwendig betrachtet werden. Um in diesem Sinne ein guter Muslim, eine gute Muslimin zu sein, reicht es nicht, die traditionellen fünf Säulen des Islam zu beachten (Glaubensbekenntnis, Pflichtgebete, Almosengabe, Fasten, Pilgerfahrt), vielmehr sind alle Regeln des allgemeinen und alltäglichen Verhaltens zu befolgen. Dazu zählen etwa das Alkoholverbot, Speisevorschriften, Kleidervorschriften, Regeln für den Umgang mit Andersgläubigen, Regeln für den Umgang der Geschlechter und diverse sexuelle Restriktionen.
Diese Sichtweise will das Leben des einzelnen Menschen bis in Details hinein von religiösen, also sakralisierten Vorschriften bestimmt wissen. Diesen Vorschriften kommt dabei der gleiche Rang zu wie rituellen Vorschriften und Regeln. 18Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat hierfür – wie auch für puritanische Bewegungen anderer Religionen – den Begriff „totale Religion“ eingeführt. 19Der französische Staatsrat Thierry Tuot hat das Phänomen Islamismus auf den Punkt gebracht: Islamismus sei das „öffentliche Einfordern von sozialen Verhaltensweisen, die als göttliche Gebote präsentiert werden und in den öffentlichen und politischen Raum eindringen“. 20Für viele Muslime scheint es das klar strukturierte Korsett sozialer Normen, klarer Regeln des Erlaubten und Verbotenen 21zu sein, das die Attraktivität des Puritanismus ausmacht. Er ersetzt jegliche individuelle Verantwortung sowie eigenständige Auseinandersetzung mit dem Islam. Das gute und richtige Leben, das gleichzeitig das Heil im Jenseits garantiert, besteht dann einzig in der Einhaltung eines Regelwerks.
Die Befolgung dieses Regelwerks wird zu einer im täglichen Leben sichtbaren Grenze zwischen Muslimen und dem Rest der Gesellschaft. Daher sind die Gebote und Verbote, die Kategorien halal und haram unverzichtbare Bestandteile des islamistischen Diskurses. Mit ihnen soll sowohl eine Grenze nach außen gezogen als auch die Gemeinschaft nach innen zusammengehalten werden. Diese Regeln erlauben es ambitionierten Muslimen, sich unter Verweis auf einige Versatzstücke aus Koran und Sunna zum Wächter über die islamische Gemeinschaft aufzuschwingen.
Besonders bekannt ist etwa der Koranvers 3:114, in dem es heißt, die rechtschaffenen Muslime „gebieten das Rechte und verbieten das Unrechte“, oft ergänzt durch ein dazupassendes Hadith: „Wer von euch etwas Schlechtes sieht, soll es durch seine Hand verbessern. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, soll er es durch seine Zunge verbessern. Wenn er auch nicht dazu in der Lage ist, soll er versuchen, es durch sein Herz zu verbessern; und dies ist der schwächste Grad des Glaubens.“ 22Das ist der Nährboden, auf dem Intoleranz, Unduldsamkeit und Bevormundung gedeihen. Sein gewaltbegünstigendes Potenzial liegt auf der Hand.
Unter diesem Einfluss verwandeln sich Heranwachsende in Glaubenshüter und Sittenwächter, die sich dazu berufen fühlen, muslimische Mitschüler und Mitschülerinnen im Ramadan zum Fasten anzuhalten, Mädchen aus muslimischen Familien, die kein Kopftuch tragen, als Schlampen zu bezeichnen, die sich wie Deutsche, Österreicherinnen etc. verhielten, und den Umgang der eigenen Schwestern und Cousinen mit dem anderen Geschlecht zu überwachen. Um eine solche Haltung an den Tag zu legen, müssen sie weder im Koran noch in anderen religiösen Schriften bewandert sein: Es geht um Prägung, um Beeinflussung durch das, was als Vorstellung vom Islam, als Geisteshaltung und Essenz in der Familie, der Nachbarschaft, in diversen Moscheen und im Herkunftsland, an dem sich viele Familien nach wie vor stark orientieren, tradiert wird.
› Die islamistische Bewegung setzt ihre Ideologie global als Mainstream immer deutlicher durch und hat die Gesellschaften in mehrheitlich islamischen Ländern zunehmend im Griff.
Das färbt selbstverständlich auch auf muslimische Gemeinden außerhalb ab. Eine „Kultur des Extremismus in muslimischen Gemeinschaften“ bringe weltweit abweichende Stimmen zum Schweigen, bemerkt die Politikwissenschaftlerin Elham Manea. 23
ISLAMISMUS – GESCHICHTE UND GEGENWART
„Und wenn sie Euch sagen: ‚Da ist Politik‘, dann sagt ihnen, dass das der Islam ist und wir die Trennung in Religion und Politik nicht kennen.“
Hasan al-Bannā, Gründer der Muslimbruderschaft
Die Idee, sich auf die Vorväter, auf einen als „wahr“ und „unverfälscht“ imaginierten Islam der Anfangszeit zu beziehen, existiert spätestens seit dem 9. Jahrhundert. In der Geschichte der islamischen Welt gab es immer wieder Denker, Prediger und Herrscher, die zu einer Rückbesinnung aufriefen, um die Herrschaft des Islam zu neuer Größe zu führen. Der Islamismus im eigentlichen Sinne kann als spezifisch islamische Reaktion auf die Moderne verstanden werden, wenngleich er sich auf mittelalterliche puritanische Denker 24beruft.
Die westliche Moderne zeichnet sich, beginnend mit der Aufklärung, in erster Linie durch Individualisierung der Gesellschaft aus, das heißt durch die Herauslösung des Einzelnen aus seinen traditionellen Bindungen an Familie, Clan und Stand. Erst durch diesen Schritt wurde der Gedanke der individuellen, voraussetzungslosen Menschenrechte möglich: Rechte, die dem Einzelnen aufgrund seines Menschseins zustehen und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, einer bestimmten Religion oder seines Geschlechts. Mit der Befreiung des Individuums wurden in Gestalt politischer Ideologien aber auch jene Kräfte geboren, die das Individuum wieder in den Schoß der Kollektive zurückdrängen wollen. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Bestrebungen ist Teil der europäischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte: vom jakobinischen Terror bis zu den Verbrechen der großen ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Europa.
Am Ende des 18. Jahrhunderts brach diese Moderne jäh in die islamische Welt ein. Nach der Landung Napoleons in Ägypten (1798) eroberten die Franzosen binnen weniger Wochen das ganze Land. Drei Jahre später waren es nicht etwa der ägyptische Widerstand oder die osmanische Armee, die die napoleonischen Truppen zum Rückzug zwangen, sondern die Briten. 25Zwar gehörte Ägypten fortan wieder zum Osmanischen Reich, der Einfluss des Sultans schrumpfte jedoch zusehends. Diese drei Jahre hatten der islamischen Welt endgültig vor Augen geführt, dass sie nach eintausend Jahren erfolgreicher kriegerischer Eroberung und dem Aufbau zweier Imperien nicht mehr im Zentrum der Weltpolitik stand, sondern von aufsteigenden europäischen Mächten abgelöst und zu deren Spielball degradiert worden war.
Napoleons Siegeszug war jedoch nur das offensichtlichste Symptom des wirtschaftlichen und militärischen Niedergangs eines Imperiums, das das östliche und südliche Mittelmeer, das Gebiet vom Balkan bis nach Persien und zeitweise um das Schwarze Meer herum jahrhundertelang beherrscht hatte. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erhoben sich zunächst die Griechen, später auch die Serben und Bulgaren. Binnen weniger Jahrzehnte hatte das osmanische Reich den größten Teil seiner europäischen Gebiete verloren. Gleichzeitig entledigten sich erste arabische Gebiete der osmanischen Hoheit. Die Schwäche der Osmanen nutzten Frankreich, England und Russland aus, um sich Teile der bislang osmanisch regierten arabischen Welt beziehungsweise weite Teile Zentralasiens und des Kaukasus einzuverleiben.
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