Der Taxifahrer hatte die Ankunft der Polizei bemerkt. Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus. Schimpfend spannte er einen Stockschirm auf und zog den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Anschlag nach oben.
„Sie haben ihn gefunden?“, rief ihm der kleine Dicke im Daunen-Anorak entgegen, der mit trippelnden Schritten schnell näherkam und dessen Gesicht ihn aus einer Kapuze heraus neugierig fixierte. Seine Äuglein – auffällig klein, wie bei einer Feldmaus – musterten den Taxler neugierig. Ihr Braun verschmolz mit der Nacht. „Hauptkommissar Benno Behringer von der Kripo Bayreuth“, stellte er sich vor.
„Leider!“, bemerkte der Taxifahrer. „Der scheint komplett hinüber zu sein“, klärte er dann den Polizeibeamten auf und deutete auf den leblosen Körper des Joggers.
„Haben Sie ihn berührt?“, wollte der Dicke von ihm wissen, als er vor ihm zu stehen kam.
„Nur kurz geschüttelt, als er auf meine Ansprache nicht reagiert hat. Wann kann ich mich hier vom Acker machen? Sie sind ja jetzt da. Die Zeit läuft und: Time is money . Der Regen … wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Wir müssen noch Ihre Personalien aufnehmen, dann können Sie meinetwegen verschwinden“, erhielt er zur Antwort. „Haben Sie irgendetwas beobachtet?“
„Nicht die Bohne. Als ich hier ankam, war der ganze Parkplatz leer – bis auf den Mercedes. Keine Menschenseele zu sehen, nicht mal ein einsamer Köter.“
„KKL!“, schrie Behringer über seine Schulter hinweg. „Kommen Sie mal und kümmern Sie sich um den Herrn hier. Personalien und das Übliche, dann kann er gehen.“
„Kommen Sie bitte mit mir zum Wagen?“, forderte Kommissar Klaus-Karl Lang, Behringers rechte Hand und sein designierter Nachfolger, den Taxler auf. „Das können wir auch im Trockenen erledigen.“
Das Team der SpuSi schleppte die Einzelteile eines Zelts herbei und begann mit dem Aufbau rund um das Heck des Mercedes. Andere platzierten starke Scheinwerfer um den mutmaßlichen Tatort herum. Benno Behringer nutzte die Gelegenheit, beugte sich in den offenstehenden Kofferraum und leuchtete dem leblosen Mann darin ins Gesicht.
Er erkannte ihn auf Anhieb.
27. Juli des letzten Jahres im Bayreuther Festspielhaus: Das war der „Popelschnalzer“. Außerdem hatte er ihn ein zweites Mal an der Behringersmühle in der Fränkischen Schweiz gesehen. Leider hatte der Kommissar keinen Namen zu dem ihm bekannten Gesicht – aber einen interessanten Fakt: Nahe der Mühle war der Mann in einem Zweierkanu auf der Wiesent unterwegs gewesen. In dem Boot hatte auch eine junge, äußerst attraktive blonde Frau gesessen. Nicht diese Kräftige, besser gesagt Stattliche, die ihn im Festspielhaus begleitet hatte.
„Wenn ihr mit eurer Arbeit fertig seid“, wandte sich Behringer an das Team der SpuSi, „dann lasst den Leichnam in die Rechtsmedizin nach Erlangen bringen.“
Wie alles begann: Die Kolbs
Juni, ein Jahr zuvor
Dort, wo sich die Tristanstraße den „Grünen Hügel“ hochzog, etwa auf halber Höhe, stand rechter Hand das frisch renovierte Hotel „Richard Wagner“. Ein Bau aus den Zeiten der Postmoderne, Anfang der 1960er Jahre: ein dreistöckiges Gebäude in L-Form, dem man heute den verbauten Beton nicht mehr ansah. Dafür sorgten die glatten Außenfassaden in harmonisch abgestimmten Farbtönen Marke „frischer Frühling“ sowie die beiden tragenden Säulen im Bereich der überdachten Auffahrt – edel und luxuriös sollte der Eindruck des Hauses sein. Die ganze Eingangsfront war durchgängig verglast und in der großzügigen Lobby protzten dicke Ledersessel um die Wette. Oben auf der Terrasse des Flachdachs thronte eine mächtige halbrunde Glaskuppel: der neue Frühstückssaal, wo die Übernachtungsgäste ihren Morgenkaffee trinken und einen wunderbaren Blick auf das Richard Wagner Festspielhaus genießen konnten.
Stolze Herren und Eigentümer der Anlage waren die drei Brüder Manfred, Günther und Karl Kolb. Ihre verstorbene Mutter hatte ihnen und ihrer Schwester Laila vor über zwei Jahren das damals mehr als angestaubte Anwesen vererbt. Kurzfristig dachten die vier über einen Verkauf nach, doch dann beschlossen die Brüder, den Sprung zu wagen und das elterliche Erbe in neuem Stil und mit neuem Konzept fortzuführen. Die hohen Schulden, die sie dabei auf sich luden, brachten Laila, die jüngste der Geschwister, dazu, sich vollends aus dem Projekt zu verabschieden. Außerdem passte ein berufliches Engagement in der Hotellerie gar nicht zu ihrem Studiengang.
Manfred, der älteste, wurde General Manager und Kundenakquisiteur. Unterstützt von Karl, der sich zukünftig ums Personal und den reibungslosen Ablauf des Tagesgeschäfts kümmern sollte, ging er an die Planung und Umsetzung des Umbaus: Vor einem Jahr, rechtzeitig zu Beginn der Festspielsaison, konnten die umfangreichen Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten abgeschlossen werden; auch das rund 4.000 Quadratmeter große Außengelände des Viersternehotels war auf Vordermann gebracht und völlig neu gestaltet worden. Nun offerierte das Haus 126 unterschiedlich große Zimmer und drei Suiten – geradezu klassisch benannt: Brünhilde-, Kriemhild- und Siegfried-Suite –, alle ausgestattet mit modernem Bad/WC, selbstverständlich inklusive freiem WLAN, mit Minibar und in der Wand integriertem TV. Auch die Hotelküche und das Restaurant glänzten in neuem Outfit. Auf das Design des Gastraums war Manfred besonders stolz. Seine Gäste speisten in der modernen Imitation einer schmucken fränkischen Landscheune mit viel Holz, offenen Balken und Buntsandsteinwänden.
Günther, Karls Zwilling und gelernter Koch, war nun Chef in seinem eigenen Reich und für die Speisekarte verantwortlich. Äußerlich glich er seinem Zwillingsbruder fast wie ein Ei dem anderen, nur ein Muttermal an seinem Hals gab ihn zu erkennen. Während Karl eher von zurückhaltender Natur war, mochte es Günther extrovertierter und fand sich auch in unvorhersehbaren Situationen schneller zurecht. Seine tiefe Liebe zur fränkischen Heimat zeigte sich in den hauptsächlich regionalen Gerichten, die er aus seinen Töpfen und Pfannen zauberte – vom Schäufele bis zur Nürnberger Rostbratwurst, vom zarten Lammfilet von der Frankenhöhe bis zum Aischgründer Spiegelkarpfen oder den Regenbogenforellen aus eigenen Gewässern der Fränkischen Schweiz. Je nach Saison standen Spargelgerichte, Wildbret oder ausgewählte Gemüse- und Salatprodukte aus dem Nürnberger Knoblauchsland zur Auswahl. Die Weinkarte offerierte, unter der eifrigen Mithilfe von Manfred, ein breites Spektrum an Weiß-und Rotweinen aus den Weinhängen um Ipsheim, Würzburg und Klingenberg. Die Biere kamen ausschließlich aus den kleinen Privatbrauereien Oberfrankens.
Nach der Renovierung versprach selbst der Keller des Hotels neue Glanzpunkte: Alle drei Brüder hatten hier ihre Ideen eingebracht und nun konnten sich die Gäste auf zwei Bowlingbahnen austoben oder in der Zirbensauna bei herrlichen Aufgüssen schwitzen. Auf dem Außengelände ließen die neuen Hoteleigentümer zuerst einen kleinen, schattigen Biergarten anlegen. Allein die fünf Meter hohen Kastanienbäume, die dafür eingesetzt wurden, kosteten ein Vermögen. Blumengesäumte Kieswege führten zu dem lauschigen Platz, vorbei an einem mit Kois, den teuren japanischen Karpfen, besetzten Gartenteich. Keine 50 Meter davon entfernt lockte in den heißen Sommermonaten ein neues Schwimmbecken, 25 auf 20 Meter groß und beheizbar, umgeben von einer gepflegten Wiese mit Duschen und Sonnenliegen. Überall im Garten luden elegante Ruhebänke zum Verweilen ein, kurzum: eine einzige Wohlfühloase, umstanden von einer halbhohen, immergrünen Kirschlorbeerhecke. Und weil es an diesem Punkt auch nicht mehr auf den letzten Cent ankam, hatten Manfred, Karl und Günther hinter der Hecke gleich noch zwei Tennisplätze anlegen und den hoteleigenen Parkplatz erweitern lassen.
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