„Na ja, wenn du mal damit aufhören würdest, andauernd mit allen anzubandeln und sie dann sitzenzulassen, hättest du mehr Auswahl.“ Jimmy rannte ein längeres Stück, um Clems Pass zu erwischen, fing den Ball während des Rennens und spürte seinen permanenten Groll gegen Spice in sich. Sie waren zwar Freunde, aber letztes Jahr hatte Spice ganz genau gewusst, dass Jimmy ein Auge auf Rebekah Gunter geworfen hatte. Er drängte sich trotzdem dazwischen, obwohl er nicht vorhatte, je wirklich mit ihr zu gehen. Für ihn war die Liebe nur ein Spiel.
„Ach, jetzt sei nicht so sauer. Du weißt selbst, dass du nie die Eier gehabt hättest, um dich mit Bekah zu verabreden.“
„Nimm das zurück, Keating.“ Jimmy rempelte ihn an, hart.
„Da sieht man’s wieder, Mädchen machen nur Ärger.“ Clem ging dazwischen und schwenkte den Ball. „Konzentriert euch. Wir müssen eine Saison gewinnen. Wisst ihr noch: der Tailback aus Memphis, der letztes Jahr unsere D-Line durchbrochen hat? Ich habe gehört, der hat im Frühling dreihundert Pfund gestemmt.“
Bradley stöhnte. Er war Abwehrspieler, ein Defensive Lineman.
„Ja, wir haben noch einiges vor uns.“ Clem sprintete vorwärts, fuhr herum und schickte den Ball dann in einem hohen Bogen zu Jimmy. Mann, der konnte werfen. Jimmy fing und überrannte Bradleys weiche Blockade.
Wenn alles lief wie geplant, würde Clem als Quarterback anfangen und Jimmy als Halfback. Sie waren Nachwuchsspieler, aber immerhin die besten für die Aufgabe. Das hofften sie jedenfalls.
Die Sonne stand hoch am klaren blauen Himmel, als Jimmy mit dem Ball unterm Arm die Straße verließ und eine Abkürzung durch Mrs. Whitakers Hinterhof nahm, wo Spice die Katze der alten Dame einen Baum hinaufjagte.
Jimmy rannte vorweg, den Footballplatz schon im Blick. Clem war knapp hinter ihm, Spice und Bradley liefen am Ende.
Als er die Zielmarke überschritt, warf er den Ball mit Wucht auf den Boden.
Ja, genau das war es, was er brauchte, um den Kopf freizubekommen. Auf dem Platz sein. Sich auf die Saison freuen. Sich auf seine Ziele konzentrieren.
Dad freute sich schon auf den Saisonbeginn seines Jungen, und Jimmy wollte ihn nicht enttäuschen. Er gab vor seinen Arbeitskollegen gerne mit seinem talentierten Sohn an.
Jimmy würde seinen Vater stolz machen. Er würde nicht zulassen, dass ihn ein Mädchen davon abhielt.
Doch als er sich für ihren ersten Spielzug hinter Clem stellte, hörte er in seinen Ohren sein Herz schlagen. Und das kam nicht daher, dass er mit seinen Freunden ein Wettrennen gemacht hatte, sondern lag einzig und allein an dem Bild des Mädchens auf der Fotografie, das ihm immer noch vor Augen stand.

TAYLOR
Brooklyn Heights, New York
16. September 2015
Freudig blickte Taylor auf, als sie seinen Schlüssel in der Tür hörte. Jack war zu Hause.
Ihre bildschirmmüden Augen stellten sich auf die dunklen Schatten ein, die ihre Wohnung im dritten Stock füllten. Das gedämpfte Licht der Straßenlaternen Brooklyns fiel durch die Fenster.
„Schau, Hops, das ist eine Spitzenkampagne. Lass uns einfach die Präsentation machen und hören, was sie sagen.“ Jack bewegte sich mit dem Telefon am Ohr durch die Wohnung.
„Hallo“, sagte Taylor beim Aufstehen und strich sich das Haar glatt. Sie war ganz steif vom vielen Sitzen. Jetzt, wo ihr Mann zu Hause war, sehnte sie sich nach seiner Aufmerksamkeit.
Ihr Mann. Ehemann. Jetzt schon seit einem halben Jahr, und immer noch klang das Wort so fremd.
Aber Jack ging zum Schlafzimmer, ohne innezuhalten oder auch nur in ihre Richtung zu nicken. Seine Laptoptasche hing ihm über die Schulter, und mit seiner breitschultrigen, muskulösen Gegenwart und dem ausgeprägten Selbstbewusstsein strahlte er ein eigenes Licht aus, mit dem er die trübe Wohnung durchflutete.
Taylor sank zurück auf ihren Stuhl. Der Schmerz in ihren Muskeln kroch in ihr Herz. Wenn er sie gar nicht hierhaben wollte, warum hatte er ihr dann überhaupt einen Antrag gemacht?
Noch viel verwirrender war allerdings die Frage, warum um alles in der Welt sie Ja gesagt hatte?
Sie saß da, mit den Fingern auf der Tastatur im Anschlag. Das Licht ihrer Schreibtischlampe glitzerte auf ihrem Ehering, dem in Platin gefassten Symbol der Verpflichtung, die sie im Wohnwagenpark eingegangen waren.
Am Anfang war es ihr lieber gewesen, die Sache frei und unverbindlich zu halten. Der Wirbelsturm ihrer Romanze hatte sie in den siebten Himmel versetzt, einen Ort, von dem sie nie wieder wegwollte.
Aber nachdem sie erst miteinander nach Martha’s Vineyard gefahren, spontan geheiratet hatten und dann wieder nach Hause gekommen waren, sank sie langsam wieder zur Erde hinab, ließ Sterne und Mond hinter sich. Die Jahreszeiten wechselten – aus Frühling wurde Sommer, der Sommer wich inzwischen langsam dem Herbst –, und Taylor spürte, wie ihre Liebe verblasste und welkte.
In letzter Zeit stritten sie häufig, oft wegen des Geldes. Sie behauptete, er gebe zu viel aus. Er bezeichnete sie als kleinlich. Aber er hatte mehr Schuhe als sie, und seine Kleider beanspruchten zwei Drittel des Kleiderschranks und eine ganze Kommode.
Mit einem Seufzer wandte sich Taylor wieder dem Foto zu, das sie auf dem Bildschirm bearbeitete. Ausgerechnet ein Hochzeitskleid, das sie für eine junge Designerin fotografiert hatte. Die Abzüge waren morgen fällig.
Das Retuschieren ging ihr in die Knochen. Sämtliche Kleider hatten Schmutz am Saum, weil sie draußen fotografiert hatten. Die letzten zehn Stunden hatte sie damit zugebracht, auf jedem Foto Licht und Schatten zu optimieren, die Szenerie, die Models, die Kleider – und zu guter Letzt damit, braune Flecken weiß zu machen.
Nach ein paar Sekunden verlor Taylor die Konzentration. Sie lehnte sich zurück und sah nach der Zeit. Zehn Uhr.
„Hast du Hunger, Jack?“, rief sie zum Schlafzimmer, wartete, lauschte.
Sie hatte ihren knurrenden Magen ignoriert und die Essenspausen übersprungen, war fest entschlossen, diesen Job zu erledigen.
Wenn sie ihren Ruf als Werbefotografin festigen wollte, musste sie ausgezeichnete Arbeit abliefern, und zwar pünktlich.
„Jack?“
Die Tür des begehbaren Kleiderschranks fiel ins Schloss, sonst kam keine Antwort. Na gut, dann wieder an die Arbeit. Noch drei Kleider und fertig.
Taylor atmete tief ein, kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen und zwang sich, weiterzumachen.
Gleich nach ihrer Spontanheirat mit Jack hatte sie ihren ersten Werbekunden an Land gezogen: Melinda House Weddings war eine europäische Designerin und berühmt dafür, die Großherzogin von Hessenberg, Prinzessin Regina, auszustatten.
Jack Forester und Melinda House in ein und demselben Monat für sich gewinnen zu können? Ein Glückstreffer. Traumhaft.
„Was machst du?“ Jack betrat das Zimmer und warf sich aufs Sofa, wo er nach der Fernbedienung griff. Er sah aus, als wollte er zum Sport, trug Basketballshorts und ein übergroßes T-Shirt von der Ohio State National Championship.
„Arbeiten …“ Kein Kuss. Kein zärtliches Hallo. Kein schmachtender Blick wie in den guten alten Zeiten – die Zeit von vor einem halben Jahr fühlte sich an wie „gute alte Zeiten“. „Hast du Hunger?“
„Nein, ich habe bei der Arbeit gegessen. Ist das der Auftrag für Melinda House?“
„Ja, die Säume sind dreckig. Ich habe ihr gleich gesagt, dass das passieren würde, aber sie hat darauf bestanden, draußen zu arbeiten.“ Was dazu geführt hatte, dass Taylor und ihre Assistentin Addison eine anstrengende, aber auch irgendwie berauschende Fahrt durch die ganze Stadt gemacht hatten.
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