An einem Sonntag, Gerlinde brachte gerade das Essen auf den Tisch, legte er ihr seine Papiere auf den Platz. „Wollen wir heiraten?“ Er sprach es so aus, als wolle er noch einen Kaffee eingeschenkt bekommen. Gerlinde, die sich gerade auf die andere Seite vom Tisch setzte, sah ihn an und nickte ihm zu.
Ohne viel drum herum zu reden, gingen der Bauer und Gerlinde nach Kriegsende zum Standesamt. Sie hatte ihr Zuhause gefunden.
Am Tage ihrer Heirat wurde nicht gearbeitet. Die Hofnachbarn wurden als Trauzeugen zum Standesamt gebeten. Die einfache Feier wurde im Bauernhaus still gefeiert und am Abend mit einer Flasche Sekt besiegelt. Den Kartoffelsalat nach Art des Hauses, von Gerlinde am Vortag zubereitet, hatte sie aus dem Rezeptbuch ihrer Vorgängerin übernommen. Handschriftlich war alles, was auf dem Hof auf den Tisch kam, in einem Buch festgehalten. Die verstorbene Bäuerin hatte es damals niedergeschrieben. Das Rezeptbuch fand sie im Küchenschrank.
Es war eine einfache Art zu kochen. Auf die letzte freie Seite schrieb Gerlinde das Rezept der schlesischen Klöße hinzu. Es war das, welches sie von ihrer Mutter übernommen hatte. Als Bäuerin, die sie an diesem Tag wurde, wollte sie die Tradition vom Hof übernehmen.
Einen Schweinebraten mit Kruste schob sie am Morgen in den Backofen; als sie aus der Stadt als Ehepaar zurückkamen, war der Hochzeitsschmaus fertig. Die Feier verlief ohne besondere Ereignisse.
Der Bauer, der jetzt ihr Ehemann war, hatte am Abend vorher die Ehebetten zurechtgerückt. Ein mulmiges Gefühl kam in ihr hoch. Gerlinde wusste nicht, was auf sie zukam. Sie war jungfräulich in die Ehe gegangen.
Als die Nachbarn sich auf dem Nachhauseweg befanden, stiegen Gerlinde und der Bauer gemeinsam die Treppe ins Schlafgemach hinauf. Von den Pflichten einer Ehefrau war ihr nichts bekannt. Gerlinde schaute nicht in seine Richtung, als er sich seiner Kleidung entledigte.
Das übergroße Nachthemd, das sie sich auf die Schnelle überzog, schützte sie vor seinen Blicken. Sie legte sich in das Ehebett, in dem er schon mit seiner verstorbenen Ehefrau geschlafen hatte.
Kaum dass er sich in seinem Bett auf die Seite gelegt hatte, zog er auch schon ungeniert seine graue Unterhose vor ihr aus. Damit demonstrierte er ihr seine Rechte, mit ihr sofort den Geschlechtsverkehr zu vollziehen.
Gerlinde traute ihren Augen nicht, wie klein doch sein Glied war. Er schob ihr das Nachthemd bis an ihren Busen. „Mach mal die Beine etwas mehr auseinander“, und schon lag er auf ihrem Bauch. Er berührte sie an ihren Genitalien so, als würde er das erste Mal eine Frau dort berühren. Sein Penis war noch nicht ganz in sie eingedrungen, da war es mit seiner ganzen Männlichkeit schon vorbei.
Gerlinde spürte einen warmen Guss an ihrem Oberschenkel fließen, den sie mit einem Tuch versuchte, abzuwischen. War das alles?, dachte sie und drehte sich auf die andere Seite des Bettes.
Mit einem kurzen Gutenachtgruß, mit dem sie ihm zu verstehen gab, müde zu sein, schliefen sie in ihrer ersten Nacht zusammen ein.
Der nächste Tag verlief nicht anders als die anderen Tage vorher. Sie arbeiteten zusammen, jeder in seinem Bereich. Alles war wie bisher. Anders in den Nächten, da waren sie beisammen.
Er versuchte es schon in der zweiten Nacht, wieder bei ihr einzudringen.
Von diesem Abend an wurde es zu einem Ritual: Bevor sich jeder auf seine Seite legte, nahm er seine Rechte als Ehemann wahr. Gerlinde nahm es so hin, wie es eben war. Die Jahre vergingen, ohne dass sich etwas veränderte.
Gerlinde war nicht überrascht, dass sie bei ihrem Ehemann keine andere Sexpraxis erwarten konnte als das, was sie in der ersten Nacht bei ihm erfahren hatte. Sie kannte nichts anderes und war trotzdem mit ihrem Leben zufrieden. Gegenseitiger Respekt und Vertrauen spielten bei ihrer Verbindung eine große Rolle. Das Glück war auf dem Hof vollkommen, als sich in ihrem bescheidenen Dasein ein Kind anmeldete. Gerlinde war schwanger.
Die Geburt des Sohnes kündigte sich an, als sie gerade das Mittagessen auf den Tisch stellen wollte. Das Ereignis verband das Ehepaar noch stärker miteinander.
Ein kleiner Mann hielt seinen Sohn im Arm, ein glücklicher Moment für ihn. Gerlinde sah sein Lächeln und eine Träne über seine Wange laufen, damals ein glücklicher Moment für beide.
Gerlinde schmerzt der Verlust ihrer Selbstständigkeit.
Sie will wieder zurück dahin, wo sie zu Hause war.
Entkräftet fühlt sie sich schon oft in den Morgenstunden.
An diesem Tag ganz besonders. Gerade aufgewacht, setzt sie sich an die Bettkante. Sie legt ihren Kopf in die offenen Hände. Ein Traum macht ihr zu schaffen. Sie träumt fast jede Nacht, nur sind die Träume schnell aus ihrem Kopf und sie erinnert sich nicht mehr an sie. Heute Morgen ist es anders.
Gerlinde hatte im Traum das Gefühl wieder zu Hause in Schlesien zu sein. Sie sah ihre Mutter über den Hof gehen. Erlebtes aus längst vergangener Zeit holte sie in ihren Träumen ein. Es tat weh, das Gefühl von Hoffnungslosigkeit; sie spürte es nach so vielen Jahre, als wäre es gerade passiert.
Der Weg ins Unbekannte war es, als sie im Treck mit vielen anderen Flüchtlingen einem Pferdewagen folgte. Sie lief dem Wagen mit den fremden Menschen einfach hinterher. Neben ihr die Mutter. Sie sagte kein Wort, seit sie ihren Hof verlassen mussten; lange blieb sie stumm. An diesem Morgen friert Gerlinde wie damals, sie hat das Hungergefühl von damals, alles ist wie damals.
Sie zieht die Bettdecke an sich, kuschelt sich hinein. Die Kälte spürt sie bis hin zum Nacken. Sie zittert. Im Traum suchte sie ihre Mutter, die sie nicht finden konnte. Gerlinde versuchte, im Traum nach ihr zu greifen, wollte die Mutter an die Hand nehmen. Sie griff ins Leere. „Wo ist meine Mutter?“, rief sie und lief im Traum dem Leiterwagen hinterher. Überall sah sie wie damals den Schmutz.
„Wo ist meine Mutter?“ Sie drückte ihre Hände wieder fest an ihre Augen. „Wo bin ich?“, schrie sie.
Von ihrer eigenen Stimme aufgeweckt, drückt sie ihre Hände noch fester ans Gesicht.
Halbwach will sie sich in den Traum zurückwagen, um die Mutter zu suchen. Die Augen hält sie weiter geschlossen. Sie findet die Mutter nirgends. Gerlinde erschrickt, sie kommt nicht zurück in ihren Traum. Die Tränen laufen ihr über die Wangen.
Die Hände noch vor ihren Augen festgedrückt, hat sie das Klopfen an ihrer Tür überhört.
Die Schwester zieht den Vorhang vom Fenster an die Seite.
„Guten Morgen, Frau Gerlinde“, grüßt sie und verschwindet wieder aus ihrem Zimmer.
Gerlinde ist zurück in der Realität. Sie bemerkt es im Halbschlaf. Sie spürt den Schmerz von Einsamkeit und wo sie sich befindet. Sie wollte bis zum Lebensende auf ihrem Hof bleiben.
Sie zieht sich die Bettdecke enger um ihren Körper und fühlt sich einsam wie nie …!
Wann haben wir uns damals nur getrennt? Gerlinde wird nachdenklich, sie kann sich nicht mehr daran erinnern.
Wieder denkt sie an die Mutter. Sie will nicht zum Frühstück. Sie will weiter nach dem Grund suchen. Sie hat keinen Anhaltspunkt Wo ist sie nur geblieben, die Mutter? Gerlinde hat auch kein Bild von ihr in ihrem Kopf. Wie sah sie nur aus?
Eingemummelt in der Bettdecke legt sie sich zurück in ihr Bett, streckt ihre Beine aus und versucht sich an das Gesicht ihrer Mutter zu erinnern. „Ich will zurück in meinem Traum.“
Doch es ist sie, sie selbst ist es, die sie mit geschlossenen Augen vor sich sieht. „Aber wo ist meine Mutter damals nur geblieben?“, flüstert sie vor sich hin und fällt vor Erschöpfung wieder in den Schlaf. Zur Mittagszeit werde ich mich anziehen und in den Speisesaal gehen, denkt sie, als sie sich die Bettdecke über den Kopf zieht.
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