Ein Zelltyp ist bei dieser Zelldifferenzierung ganz eigenartig: er fängt irgendwann einmal an zu zucken. Diese Kontraktionen vollzieht er dann siebzig Mal in der Minute und dies oft siebzig oder achtzig Jahre lang. Es sind dies die Herzzellen. Diese Zellen kontrahieren sich von selbst , das Herz schlägt von selbst, niemand weiß genau warum, selbst wenn man die physiologischen Mechanismen kennt. Wenn es nicht mehr schlägt, kann die Medizin es nach einem Herzstillstand manchmal wieder zum Schlagen bringen. Man nennt diesen Vorgang eine re-anima-tion, was wörtlich bedeutet: die Seele zurückgeben. Dem Organismus wird im übertragenen Sinn die Seele im Sinne der Lebenskraft zurückgegeben, indem das Herz wieder anfängt zu schlagen. Dann aber muss es wieder von selbst schlagen, machen kann der Mensch den Herzschlag nicht. Auch dies ist ein „Von selbst“, etwas vermeintlich Selbstverständliches. Aber selbstverständlich ist es nicht. Bei der millionenfachen Schlagzahl des Herzens ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zwischendurch einmal aufhört zu schlagen, sehr viel größer.
Um den dritten Monat herum sind die Organe und das Gehirn angelegt. Jetzt finden kaum noch Zelldifferenzierungen statt, sondern der Embryo, der ab jetzt Fetus genannt wird, wächst nur noch heran. Das erste Sinnesorgan, das sich entwickelt, ist das Ohr. Der Embryo beginnt zu hören und nimmt den Rhythmus des Herzschlages der Mutter wahr. Die Wahrnehmung des jungen Menschen beginnt also mit der Wahrnehmung eines Rhythmus’. Spätestens jetzt (wahrscheinlich schon früher) beginnt auch der emotionale Dialog mit der Mutter. Der Fetus wird in ihren Rhythmus mit hineingenommen, die pränatale Psychologie weiß einiges davon. Hier werden erste Weichen für die weitere Biographie des Menschen gestellt.
Dass die Zelldifferenzierungen durch die erwähnten Abschaltmechanismen geschehen, bedeutet, dass die Information für den Organismus nicht allein in den Genen liegt, sondern verteilt ist auf die genetische Grundinformation und die epigenetische Schaltinformation aus der Umgebung (Epigenetik). Diese die Gene an- und abschaltenden Faktoren sind zum Teil bekannt, zum Teil noch unbekannt. Sie liegen auf den Chromosomen in den Bereichen zwischen den Genen (diese Abschnitte hat man bisher für billiges Zeug gehalten, cheap junk), sie liegen im Zytoplasma der Zellen, sie bestehen in der Interaktion zwischen den Genen selbst und den Genen mit den Proteinen. Im erwachsenen Organismus reichen diese Interaktionen bis zum Nervensystem und zum menschlichen Gehirn.„Auch das Gehirn … nimmt direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden.“18 Die Information liegt aber nicht nur in den Genen (DNS, Desoxyribonucleinsäure) und ihrer Umgebung, sondern vor allem auch in der Ribonucleinsäure (RNS).„Information und Stoffwechsel. Die zwei wichtigsten Eigenschaften des Lebens. Beide in einem Molekül“19, nämlich der RNS.
Es findet also eine ständige Wechselwirkung statt zwischen den Genen, zwischen Genen und Proteinen, zwischen Genen und ihrer Umgebung, zwischen DNS und RNS, zwischen den Zellen sowie der Umgebung der Zellen, zwischen dem ganzen Organismus und den Zellen, den Genen und Proteinen sowie der Umgebung des Organismus. Auch die soziale Umwelt, die Ernährung und die Innenwelt des Menschen mit seinem Denken und Fühlen haben Einfluss auf diese genetischen Interaktionen. In der Embryonalentwicklung wird das Genom durch diese ständigen Interaktionen erst langsam geformt und dabei müssen die genetische Grundinformation und die epigenetische Schaltinformationen genau aufeinander abgestimmt sein, damit die Zelldifferenzierung beim Embryo geordnet abläuft. Verläuft sie ungeordnet, entstehen Missbildungen. Eine solche ungeordnete Zelldifferenzierung findet zum Beispiel statt, wenn man aus einem fünf Tage alten Embryo Zellen entnimmt und diese Zellen zu embryonalen Stammzellen verwandelt, um sie zu therapeutischen Zwecken beispielsweise bei Patienten mit Parkinson, Diabetes, Krebs, Alzheimer zu verwenden.
Transplantiert man diese jungen fünf Tage alten Zellen in den anderen Organismus des Patienten, dann bleibt zwar die genetische Grundinformation zur Zelldifferenzierung bestehen, aber diese „Aufforderung“ zur Zelldifferenzierung läuft jetzt wegen der anderen Umgebung im Patienten („Schaltinformation“) ungeordnet ab. Und eine ungeordnete Zelldifferenzierung ist das, was man als Krebs bezeichnet. Daher haben bisher seit zehn Jahren alle Therapieversuche (weltweit) mit diesen jungen und unreifen Zellen, die man embryonale Stammzellen nennt, zu Krebserkrankungen geführt.
Schon auf dieser rein physiologischen Zellebene sieht man, dass die Information im Organismus nicht eindimensional starr festgelegt ist, sondern sich als ein ständiges Wechselwirkungs- und Interaktionsgeschehen darstellt zwischen genetischer Grundinformation und epigenetischer Schaltinformation. Das Genom des Menschen scheint sich in der Embryonalentwicklung erst langsam zu formen, es liegt nicht starr fest, sondern wird erst langsam Gestalt. Dabei spielt offensichtlich das Verhältnis zur Mutter und später auch zum Vater eine wesentliche Rolle. Die drei entscheidenden Phasen dieser Formung sind offensichtlich die pränatale Phase im Mutterleib, die Geburtsphase und die Pubertät.20
Interessant ist, dass in der Embryonalentwicklung viele „Aktivitäten“ bereits vom Embryo ausgehen. Sie reichen von der schon erwähnten Hormonausschüttung zur Verhinderung der Abstoßung bis hin zum langsamen Sich-Eingraben des Embryos in die Gebärmutter (zwischen 6. und 14. Tag) sowie der Ausbildung der Nabelschnur und der Geburtseinleitung durch den Fetus. Er gibt die Signale zum Beginn der Geburt. Daher sind frühzeitig eingeleitete Geburten und Kaiserschnitte (wenn sie nicht absolut notwendig sind) nicht das Mittel der Wahl, da der Fetus noch nicht zur Geburt reif ist und eine vorgezogene Geburt Stress bei ihm auslöst.
So ist der Entwicklungsprozess von der Zygote bis hin zum geborenen Kind eine Einbahnstraße. Der Organismus entsteht durch die Verschmelzung von Samen und Eizelle, er wächst, wird Gestalt und muss geboren werden. Bleibt er in seiner Entwicklung stehen oder im Geburtskanal stecken, stirbt er ab und vergiftet womöglich den Organismus der Mutter. Der Weg hin zur „Befreiung“ aus dem dunklen Mutterschoß, zum „Erblicken“ des Lichtes ist unumkehrbar. Lebensentfaltung ist Entwicklung nach vorne und bedarf eines geordneten Wachstums mit zielgerichteter Veränderung. Ohne eine solche Ordnung und Zielgerichtetheit ist der Organismus nicht lebensfähig.
Der Fetus wird geboren, die Nabelschnur durchtrennt, das neugeborene Kind muss selbständig atmen. Dieses Von-selbst-Atmen nennt man Spontanatmung. Sie geschieht „von selbst“, man kann sie nicht machen. Man kennt zwar die physiologischen Mechanismen im Atemzentrum im Stammhirn, aber das Phänomen des „Von selbst“ taucht auch hier wieder auf. Setzt die Spontanatmung beim neugeborenen Kind nicht ein, müsste es beatmet werden. Auf Dauer aber muss es von selbst atmen. Tut es dies nicht und muss beatmet werden, stellt sich irgendwann die Frage, wann man die Beatmungsmaschine abstellen darf. (Um hier ein Kriterium einzuführen, hat man vor etwa vierzig Jahren das Hirntodkriterium definiert. Dies besagt, dass man den Patienten für tot erklärt, wenn in den drei großen Arealen des Gehirns – Großhirn, Zwischen-, Mittel-, Kleinhirn und Stammhirn – keine Aktivitäten mehr gemessen werden können, das sogenannte Nulllinien-EEG.). Solche Beatmungen geschehen auch bei Operationen, nach denen der Patient wieder von der Beatmungsmaschine wegkommen muss oder auch nach sogenannten Re-anima-tionen (wörtlich: Wiederbeseelungen), wenn nach einem Herzstillstand das Herz wieder zum Schlagen gebracht wird. Dann muss der Mensch solange beatmet werden, bis der Organismus sich erholt hat. Auch dann muss der Patient irgendwann wieder von der Maschine loskommen und allein atmen.
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