Gewidmet den Vielen und den Vielfältigen.
Eine Ermutigung für alle.
Seid Ihr selbst!
Copyright © Claudius Verlag, München 2019
www.claudius.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
Layout: Mario Moths
Gesetzt aus der Palatino und Univers
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-532-60046-7
Cover
Titel
Impressum Gewidmet den Vielen und den Vielfältigen. Eine Ermutigung für alle. Seid Ihr selbst!
Ein Wort zuvor
Prolog aus dem Sturm
Das Mädchen mit den Bauklötzen
Die ersten Wochen danach
Sturm, Drang, Radikalisierung
Auszeit zum Jahreswechsel
Die ersten Fluchten
Leben übergeben und empfangen
Den Schmerz verstehen
Mann sein, Mann werden
Es gibt kein richtiges Leben im Falschen
Sebastian Finn Lorenz, männlich
Ein letzter tiefer Fall
Macht Gott Fehler?
Zuhause ankommen
Lorenz aus der Asche
Epilog
Weiterführende Quellen
Über den Autor
Es ist mein Handwerk, auf das Leben von Menschen zurück zu schauen. Erzählen, deuten und manchmal auch einen Sinn finden, wo Angehörige rätseln. Oft stand ich in meinem Leben als Pfarrer auf dem Friedhof und habe mich gefragt, was wird man mal von mir erzählen? Und wie?
Nun wurde ich eingeladen, meine Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte einer vierzig Jahre währenden Häutung, bis ich endlich der sein konnte, der ich schon immer war. Sebastian. Ein Mann.
Ich habe mir immer gewünscht, meine Geschichte einmal ganz erzählen zu können, in der Hoffnung, verstanden zu werden, aber auch zu verstehen, einen Sinn in all dem zu erkennen. Bei all den Häutungen suchte ich immer wieder die Spur Gottes. Manchmal hat er deutlich geschrieben, oft genug zwischen den Zeilen und in den seltensten Fällen waren die Linien gerade. Vom Segen und der Bewahrung will ich erzählen, in all den Brüchen, die mein Leben bereithielt.
In Daniel Staffen-Quandt habe ich einen sensiblen und aufmerksamen Zuhörer gefunden. Er hat es verstanden, Ordnung in ein kompliziertes Leben zu bringen. Ohne ihn wäre dieses Buch nicht geworden, was es ist.
Wir erzählen zwei Geschichten. Es ist einerseits die Geschichte einer öffentlichen letzten Häutung. Von dem Tag an, an dem ich meiner Gemeinde nach dem Sonntagsgottesdienst offenlegte, Mann zu sein und das nun auch endlich leben zu wollen, und von dem, was in den Monaten danach geschah. Und es ist zweitens die Geschichte von einem vierzig Jahre währenden Durchbeißen. Die ständig sich wiederholende Suche nach dem richtigen Leben. Oft genug ist es auch eine Geschichte vom Scheitern. In diesem Teil steht ein Name, den es so nicht mehr gibt. Ich habe mich schmerzhaft dazu durchgerungen, ihn stehen zu lassen, wissend, dass das falsch ist, ich war das nie wirklich. Aber er gehört zu der Hülle, unter der ich lange gelebt habe, in der ich nie ganz zuhause war und die ich endlich ablegen konnte.
Zwischen diesen beiden Geschichten finden sich immer wieder lyrische Texte. Meine Texte. Manche sind viele Jahre alt, andere erst in den letzten Monaten entstanden. Sie sind der Versuch, Worte für das zu finden, was mich im Innersten umgetrieben hat. Manchmal als konzentrierte Brühwürfel, ein anderes Mal als ein warmer Fluss, in den ich eintauchen konnte.
Ich will und muss es am Anfang in aller Deutlichkeit schreiben: Vieles, was in den geschichtlichen Passagen zu lesen ist, hat Trigger-Potential. Wenn Sie, liebe Leser*innen um ihre offenen Wunden wissen, so seien Sie vorsichtig. Ich habe mich entschieden, die Geschichte offen und ehrlich zu erzählen, ahnend, dass andere sich darin mit ihren eigenen Themen wiederfinden könnten.
Dem Claudius-Verlag und der Lektorin Laura Pöhler habe ich für das Vertrauen und die offene und herzerfrischende Zusammenarbeit zu danken.
Und dann sind da noch Birgit Mattausch und Johanna Klee, Freundinnen und Gefährtinnen auf dem Weg, die immer wieder auf mich aufgepasst haben. Sie standen mir mit fachkundigem Rat beim Schreiben und Komponieren zur Seite und haben großen Anteil am Werden dieses Buches.
Seit ich mich vor fast zwei Jahren endlich auf den Weg gemacht hatte, hat mich ein Vers aus der Berufung des Propheten Jeremia nicht mehr losgelassen:
Gott spricht: Ich kannte dich, ehe ich dich
im Mutterleib gemacht habe
(Jeremia 1,5)
Ohne diesen Gott, ohne den Glauben an seine bedingungslose Treue zu mir, hätte ich keine einzige Häutung geschafft. Soli deo gloria !
Veitshöchheim im März 2019
Sebastian Finn Wolfrum
Am Montag des Lebens
fraß sie sich durch die
Krankenhausroutine durch
testen
bestimmen
benamen
Am Dienstag
schmeckte sie kurz
die süße verlockende Frucht
bevor ihr die
genommen wurde
Verbotene Frucht!
Am Mittwoch
nahm sie das was
andere für gut und richtig und passend und
angemessen hielten
voll falschen Geschmacks
bitterhart
seelenvergiftend
Am Donnerstag
weigerte sie sich von dem zu nehmen
was man für ihre Art als richtig erachtete
und lernte
Einsamkeit
Verlorensein
Am Freitag
probierte sie die verwandte Frucht
hoffend dass sie nun endlich satt werde
und schmeckte
und schmeckte bitter
leer falsch
Am Samstag
griff sie zu neuem vom Anfang vertrauten
verschlang schmeckte und fühlte
die alte Sehnsucht
und den Schmerz
und die Fülle des Lebens
Da entschied die Raupe das Raupendasein zu lassen
sich nicht mehr falscher Gestalt anzupassen
Form und Hülle abzulegen
sich Raum im Seelenkokon zu geben
und knüpfte ihn zu
mit gekappten Leinen
looking for sunday!
12.07.17
Jetzt. Es gibt kein Zurück. Den Talar habe ich abgelegt, das Schlusslied ist gleich vorbei. Durchatmen. Ich lehne an der Kirchenbank, vermeintlich lässig, Blick zum Altar. Wenn die wüssten, wie es in mir aussieht. Der letzte Ton erklingt. Nun ist es soweit. Ich richte mich auf, gehe ein paar Schritte. Keine fünf Meter sind es zu der Stelle, zu der ich hin will. Dort habe ich gestern Abend noch geübt, was ich jetzt sagen will. Üben – das habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Jetzt stehe ich da, öffne meinen Mund, fange an zu sprechen – und alle hören nur das Luther-Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“. Der Organist hat mit dem Auszugslied begonnen. Das war anders abgesprochen. Doch keiner rührt sich. Alle warten, denn alle wissen, dass ich etwas sagen will.
Ich gehe zurück zur Bank und lehne mich wieder dagegen. Draußen stürmt es, man hört den Wind jaulen, die Kirchentüren klappern trotz ihres Gewichts. Plötzlich reißt der Himmel auf, grelles Sonnenlicht strömt in die Kirche – und fällt genau auf mich. Zu viel Drama. Viel zu viel Drama für mich. Wo ist das Loch, in dem ich mich verstecken kann? Der Puls schlägt unerbittlich, viel zu schnell. Sekunden vergehen wie Stunden, die Welt um mich herum bewegt sich wie in Zeitlupe. Ich höre jeden einzelnen Ton. Der Organist nimmt sich Zeit. Normalerweise genieße ich das. Heute ist es eine Qual. Ich schaue mir selber zu, alles ist so unwirklich. Die ganze Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan. Wegen des Sturms. Aber vor allem wegen meines Vorhabens.
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