Ich packe meine Sachen und bin raus. Die zwei Tage nach meinem Outing waren stressig, an Schlaf kaum zu denken. Der Körper voll mit Adrenalin. Viele Interviewanfragen, Mails und Facebook-Nachrichten. Doch jetzt zählt erst mal etwas anderes. Ich steige ins Flugzeug nach Spanien, um mit meinem Bruder zu reden. Seit ein paar Jahren haben wir wieder mehr Kontakt; auch, um über unsere Familie, unsere gemeinsame Geschichte zu sprechen. Dieser Kurztrip wird hochintensiv, das weiß ich schon vorher. Ich will ihm von Angesicht zu Angesicht erzählen und erklären, wie es mir geht. Er wusste natürlich schon, was an diesem 29. Oktober passieren wird – aber groß darüber reden wollte ich am Telefon nicht. Wir hatten die Wochen vorher viel hin und her geschrieben. Seine allererste Reaktion war positiv. Er sagte mir seine Unterstützung zu. Nun aber will ich meinen Bruder sehen. Der Flieger hebt ab, Ziel: Santiago de Compostela. Ich bin dann mal weg.
In Spanien bin ich mit meinem Bruder viel unterwegs. Er berät Bodegas, und in diesen Tagen ist die Weinlese vorbei, erste Proben stehen in den Kellern an, Gespräche mit Gastronomen und anderen. Seinen Geschäftspartnern stellt er mich sehr selbstverständlich als seinen Bruder vor. Niemand fragt nach. Alle reden mich mit Finn an. Ich bin „hermanos“, der „Bruder“.
Auf den Fahrten und in den Nächten reden wir viel miteinander. Wie es ist, in der Öffentlichkeit zu stehen, dem Pressehype ausgesetzt und dem, was noch kommen mag. Als ehemaliger Assistent eines Nobelpreisträgers weiß er, was das bedeutet. Wir sprechen auch viel über die Familie, die Vergangenheit. So nah wie in diesen Tagen waren mein Bruder und ich uns schon lange nicht mehr.
Schon im Flugzeug, auf dem Rückweg nach Deutschland schlägt das Herz wieder schneller. Wie wird das jetzt sein, das neue Leben, der neue Alltag? Auf dem Smartphone habe ich gesehen, wie viele Nachrichten schon wieder darauf warten, gelesen und beantwortet zu werden. Alle sind wohlwollend und aufbauend, ja bestärkend. Keine Vorwürfe oder Anfeindungen. Es sind auch viele Anfragen von anderen Transidenten dabei, die Rat und Hilfe suchen. Vielen ergeht es offenbar ganz ähnlich, wie es mir ergangen ist. Schon in den ersten Tagen nach meinem Outing werde ich zum Vorbild. Einer, der sich traut. Viele andere richten sich dran auf. Finden durch mich den Mut, zu sich zu stehen. Vor allem viele religiöse Menschen, die sich fragen, wie ihr Transident-Sein mit ihrem Glauben zusammengeht. Vertraute Fragen. Auch ich habe viel Zeit im Gebet und mit meiner Seelsorgerin verbracht, bis ich sagen konnte: Sehr gut geht das. Gott liebt mich so, wie ich bin. „Ich kannte dich, bevor ich dich im Mutterleib gemacht habe.“ Mich, Sebastian. So einfach ist das.
Jetzt also: Neustart ins Leben. Vorsichtig taste ich mich von Tag zu Tag, viele erste Male stehen mir bevor. Angespannt trete ich vor meine Klassen an der Fach- und Berufsoberschule in Würzburg. Meine ersten Worte klingen fast auswendig gelernt. „Ich gehe davon aus, dass Sie in den letzten Tagen irgendwann einmal von mir gehört oder gelesen haben“, sage ich. Die Schüler und Schülerinnen, alle mindestens 17 Jahre alt, nicken und manche grinsen wohlwollend – aber niemand sagt etwas. „Ich bin jetzt Herr Wolfrum. Bitte redet mich in Zukunft so an.“ Wieder Nicken, wieder Stille. Ich halte kurz inne, schaue in die Runde. Dann mache ich einfach weiter mit dem Unterricht. Die Schülerinnen und Schüler wechseln die Anrede, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Am Mittag des selben Tages dann das Gleiche im Kollegium, begleitet von aufmunterndem Schulterklopfen, und ein paar Tage später wieder bei einer Bürgerversammlung in der Gemeinde. Überall kommt mir Wohlwollen entgegen, oft auch Respekt für diesen Schritt. Ein älterer Mann schlägt mir auf die Brust. „Klasse! Ich finde das gut, was Sie machen.“ Männer unter sich, mit ihren Gesten, ihren Symbolen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie unfallfrei das Outing abläuft. Damals, als ich mich als homosexuelle Frau gefühlt und als solche geoutet habe, lief das alles nicht so reibungslos. Zumindest nicht in der heutigen Erinnerung. Ist die Gesellschaft wirklich so viel weiter? Mögen mich die Leute vielleicht einfach, weil ich bin wie ich bin und ihnen mein äußeres Geschlecht auch schlicht egal ist?
Jedenfalls: Nach dem Outing als lesbische Frau hat mir keiner aufmunternde Briefe geschrieben. Anders als jetzt. Eine Frau aus der Gemeinde meldet sich bei mir. Sie ist über 90 Jahre alt, wegen diverser körperlicher Gebrechen kommt sie nur noch sehr selten in die Kirche zum Gottesdienst. Jetzt schreibt sie mir einen wunderbaren Brief voller Respekt und voller Wertschätzung. Wünscht Segen.
Da sind auch frühere Weggefährt*innen aus meiner Schulzeit und dem Studium, die mich als radikalen Evangelikalen erlebt haben – und mir nun schreiben: „Das passt alles so gut. Du warst schon immer einer, der auf der Suche war, nie bei sich sein konnte, rumgeirrt ist und deshalb gegen sich selbst aggressiv war.“
Dann steht der erste Sonntagsgottesdienst nach meinem Outing an. Wie wird das sein? Stehe ich alleine in der Kirche? Oder kommen gar Neugierige, die sich den vermeintlich schrillen Vogel mal aus der Nähe anschauen wollen? Stehen TV-Kameras vor der Kirche, Journalisten, demonstrierende Trans-Gegner? Ich bin aufgeregt. Nicht wie am Tag X, aber doch nervös. Und erneut ist meine Aufregung völlig grundlos. Der Gottesdienstbesuch ist normal, keine Journalistenmeute vor der Kirche, keine Gehässigkeiten. Wir feiern Gottesdienst wie immer. Ganz normal. War da was?
In der digitalen Welt bin ich der Held, hier ist mir die Aufmerksamkeit sicher. Für kurze Momente kehrt sich meine Unsicherheit, meine Anspannung, als öffentliche Person, als Pfarrer noch dazu, das Outing bewältigen zu müssen, in Euphorie um. Ich merke, wie ich für viele in der Trans-Gemeinde zum Vorbild werde. Jugendliche, junge Erwachsene und manche sind älter als ich. Sie richten sich an meinem Mut und den vielen positiven Reaktionen auf, da das Outing bei mir augenscheinlich so reibungslos geklappt hat. Weitere Berichte in der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT tun ihr übriges. Meine Gefühlslage gegenüber diesem plötzlichen Hype um meine Geschichte ist extrem ambivalent. Es geht nicht um mich als Person, das weiß ich natürlich, sondern um meine Funktion, um das erfolgreiche Coming-Out. Trotzdem fühlt sich die Aufmerksamkeit gut an.
Bis sich meine Vergangenheit wieder wie ein grauer Schleier über alles legt. Die dunkle Seite meiner Geschichte, die kaum jemand kennt und die mich aus meiner Sicht nicht zum Vorbild taugen lässt, drängt sich ins Heute. Jahrelange Depressionen, Selbstmordgedanken und Gewaltphantasien gegen mich selbst – nie könnte ich sagen: Lebt so wie ich, dann wird alles gut!
Das alles wird mir umso bewusster, da ich mein Leben in diesen Tagen und Wochen viele Male rekapitulieren muss. Für die Journalisten, denen ich mein ganzes Leben erzählen soll. Immer abwägen, was erzähle ich, was nicht. Aber nicht nur für die Presse, auch für die vorgeschriebene Psychotherapie, die ich machen muss, um die Hormonersatztherapie genehmigt zu bekommen. Und für alles andere auch. Notwendige Operationen, die Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde.
Andere Transidente, die noch vor ihrem Outing stehen und jetzt meine Hilfe brauchen, fragen mich nach meiner Geschichte, danach, wie ich mir selbst gewiss wurde. Immer wieder höre ich, dass andere mich als Vorbild nehmen; sie erzählen in ihrer Therapie von mir. Manche Ärzt*innen kennen mich schon, bevor ich bei ihnen in der Praxis sitze.
Ich schaue dabei immer wieder den eigenen Abgründen ins Gesicht. Ich sehe auf mein Leben, das so oft an der Kante zum Abgrund verlief. Wie die Gefährten im Herrn der Ringe bin ich durch Moria gewandert. Durch das Outing bleibt kein Stein auf dem anderen. Ich sehe die Bruchsteine, aus dem ich mir meine neue Existenz als Sebastian aufbaue – nicht ohne Stolz, aber eben auch mit Anstrengung und Demut.
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