Entwicklung des modernen Staates
Es ist schwierig, die Ursprungsidee eines modernen Staates genau zu datieren, da das Wort ›modern‹ offen für verschiedene Interpretationen ist. Die nützlichste Definition bezieht sich nicht auf einen chronologischen Zeitraum, sondern auf das Auftauchen von bestimmten Merkmalen des Staates, die in zeitgenössischen Gesellschaften noch erkennbar sind. Diese Merkmale beschreiben Staaten, in denen Macht geteilt wird; in denen die Rechte auf Partizipation an der Regierung rechtlich oder verfassungsmäßig legitimiert sind; in denen Repräsentation umfassend, Staatsmacht vollständig säkular und die Grenzen nationaler Souveränität eindeutig bestimmt sind. Eine Staatsform dieses Typs tauchte sehr ungleichzeitig innerhalb Europas auf. Er manifestierte sich in Großbritannien bereits im 18. Jahrhundert, während er in Deutschland vor dem Ende des 19. Jahrhundert nicht anzutreffen war.
In Großbritannien bildete sich der klassische liberale Staat als Folge der parlamentarischen Zwischenregierung und des ›Großen Kompromisses‹ von 1688 während des 18. Jahrhunderts bis weit hinein ins 19. Jahrhundert heraus. Dies umfasst die Zeitspanne des agrarischen und frühen industriellen Kapitalismus und Großbritanniens Aufstieg zur Vormacht als Handels- und Produktionsmacht. Die zwei Bereiche sind organisch miteinander verbunden: Aufgrund der Forderungen der aufstrebenden Klassen, die mit dieser ökonomischen Entwicklung verbunden waren, war der Staat gezwungen, einen liberaleren und rechtsstaatlichen Pfad einzuschlagen. Diese Form des Staates wurde als ›liberal‹ bezeichnet: a. im Gegensatz zu den Rigiditäten des Ancien Régime und b. wegen seiner wesentlichen Funktion, die ›Rechte und Freiheiten‹ des Individuums zu garantieren. Die Organisationsprinzipien, die dem Handel und dem Gewerbe zu expandieren ermöglichten – der Freihandel, die Gesetze des Marktes und des Vertrages –, waren auch die Prinzipien, die die Beziehungen zwischen Staat und Individuum neu formierten. Individuen gingen mit dem Staat einen ›Gesellschaftsvertrag‹ ein, im Austausch für die Verteidigung ihrer Rechte und Freiheiten, die sie als ›natürlich‹ erachteten. Das macht die Individuen zum a priori des Staates, nicht umgekehrt. Diese Rechte sind sehr besondere: das ›Recht‹, Arbeitskraft zu kaufen und zu verkaufen; Privateigentum zu besitzen und darüber zu verfügen; ›frei zu handeln‹, außer jemand bevorzugt den Rechtsweg; (insbesondere vom Staat) ›unbehelligt eigene Privatgeschäfte zu tätigen‹; ›sein Zuhause als seine Burg zu verstehen‹.
Einmischung in diese Freiheiten können nicht mehr aus Lust und Laune der Krone oder des Staates erfolgen, sondern müssen rechtlich genehmigt sein. Selbst der Staat war dem Gesetz unterworfen, d. h. Herrschaft durch das Recht oder ›Rechtsstaatlichkeit‹. Der liberale Staat musste stark sein, um das Leben und das Eigentum der Individuen zu beschützen, um frei abgeschlossenen Verträgen Geltung zu verleihen und die Nation gegen äußere Angriffe zu verteidigen. Aber dieser Staat musste sich auch zurücknehmen und nicht in zu viele Bereiche intervenieren. Insbesondere sollte er sich aus ökonomischen Transaktionen heraushalten und sie dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen (die Wurzel der Doktrin des Laissez-faire).
Dieser ›liberale kapitalistische‹ Staat war freilich keine Demokratie. Die Mehrheit durfte nicht wählen, sich nicht frei versammeln, nicht veröffentlichen, nicht Mitglied einer Gewerkschaft werden, als Andersgläubige kaum einen Posten annehmen. Frauen durften weder wählen noch über Eigentum verfügen. Die Kämpfe der Mehrheit des gemeinen Volkes und der Arbeiterklassen, um diese politischen und Bürgerrechte für sich zu erlangen, bildeten die Grundlage der Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts. Sie veränderten zwar nicht die grundlegende Form des liberalen Staates, modifizierten ihn aber erheblich, indem sie seine Repräsentationsbasis und seine demokratische Substanz erweiterten. Am Ende wurde die ›Demokratie‹ in den liberalen Staat eingepasst, um jene hybride Variante zu schaffen, die vom klassischen Liberalismus unterschieden werden muss: den liberal-demokratischen Staat. In den letzten Jahren des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wuchs der Wettbewerb zwischen den sich industrialisierenden Weltmächten: das war ein Gerangel zwischen den imperialen Mächten. Großbritannien verlor seine führende Wettbewerbsfähigkeit: andere Nationen industrialisierten schneller und überholten die Briten. Es gab einen neuen Antrieb, die britische Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die Gesellschaft zu modernisieren und sie ›effizienter‹ zu machen. Zusehends wurde das Argument gestärkt, dass der liberale, minimalistische, Laissez-faire-Typ des Staates diese Aufgabe nicht erfüllen könne. Großbritannien brauchte einen stärker steuernden, interventionistischen Staat, der in der Lage war, organisch im Interesse der ganzen Gesellschaft zu agieren und zu planen.
Dieser Schritt zum Kollektivismus wurde aus zwei Richtungen verstärkt: Unterstützung kam von den herrschenden Klassen im Namen einer größeren ›nationalen Leistungskraft‹; und auch von den arbeitenden Klassen, den Armen und den Arbeitslosen, weil sie glaubten, dass dem Industriekapitalismus nur durch den Staat Reformen auferlegt werden können, die ihre Lebensverhältnisse verbessern und weitergehende ökonomische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit herstellen würden. Den Egalitarismus vertretende Bewegungen und Sozialisten sehr verschiedener Couleur forderten dementsprechend eine erweiterte Rolle für den Staat. Die Reformer glaubten, dass es ohne Staatsintervention niemals eine angemessene Versorgung für die Armen, die Arbeitslosen, die Alten und die Kranken geben werde. Die Sozialisten argumentierten, dass der Wohlstand ohne Staatsintervention niemals gerechter geteilt werde. Die Arbeiterbewegung engagierte sich zu dieser Zeit für ›gesellschaftliches‹ (praktisch Staats-) Eigentum und für die Kontrolle der Leitungspositionen der Wirtschaft. Im Großen und Ganzen waren es die evolutionären und reformistischen Versionen dieser Programme, die in der britischen Arbeiterbewegung institutionalisiert wurden.
Kollektivistische Staatspolitik wurde nur langsam und ungleichmäßig umgesetzt. Trotz Anstrengungen in dieser Richtung zwischen 1906 und 1911 und zwischen den Weltkriegen erreichten diese ›reformistischen‹ Tendenzen ihren Höhepunkt erst mit dem Nationalisierungsprogramm und den sozialstaatlichen Maßnahmen der Nachkriegs-Labour-Regierung im Jahre 1945.
Die ›Entstehung‹ des Wohlfahrtsstaates wird mit Recht den reformerischen Sozialprogrammen der Liberalen Regierung von 1906 – 1911 zugeschrieben; aber seinen Höhepunkt erlebt er in der Zeit der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren wurde zuerst Großbritannien und in Folge auch alle anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften ›Wohlfahrtsstaaten‹. Diese Tendenz wurde selbstredend von denen abgewehrt, die eine ›liberale‹ Auffassung von Staat gefährdet sahen, und von denen, die glaubten, dass sie ›überbesteuert‹ werden, um solch einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Aber die Versorgungsempfänger – die Volksmehrheit – sahen ihn positiver. Die Basis für eine ›Nachkriegs-Vereinbarung‹ über den grundlegenden politischen Rahmen für die britische Nachkriegsgesellschaft ergab sich aus der stillschweigenden Übereinstimmung zwischen den zwei wichtigsten politischen Kräften. Dieser Konsens umfasste staatlich unterstützte oder finanzierte Wohlfahrt, Leistungen, Wohnungen, Bildung; ebenso Vollbeschäftigung und eine bedeutendere Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik (um die Katastrophen der Zwischenkriegsperiode zu vermeiden). Die ›Vereinbarung‹ wurde unter dem Namen ›Butskellism‹ bekannt: Gaitskell (Vorsitzender der Labour-Partei) und Butler (Anführer der Reformer der Tory-Partei), die die politische Aushandlung leiteten, waren auch Namensgeber der Vereinbarung. Nachträglich wurde sie auf ihren Chefberater Keynes zurückgeführt. Bildeten die politischen Reformen des 19. Jahrhunderts den ersten Schritt des Reformismus, der den liberalen Staat modifizierte, war Wohlfahrt der Folgeschritt: die Erweiterung der ›Bürgerschaft‹, die bestimmte soziale und ökonomische Rechte erhielt, und das Ende eines rigorosen Laissez-faire – genauso wie das beträchtliche Anwachsen des staatlichen Verwaltungsapparates.
Читать дальше