Der Begriff Osteopathie ist im funktionellen Sinn zu verstehen. Über manuelle Techniken an den Knochen (gr. osteon ) gewinnt man einen Einfluss auf ein Leiden (gr. pathos ). Aus heutiger Sicht mag dieser Begriff nicht mehr weit reichend genug erscheinen, was leider zu einer unsäglichen Blüte von neuartigen Begriffen geführt hat.
Biogen ist einer der meist diskutierten Begriffe aus Stills Schriften. Laut Lexikon bedeutet biogen: (1) Durch Lebewesen entstanden; (2) Durch die Tätigkeit von Lebewesen entstanden, aus ausgestorbenen Lebewesen gebildet; (3) Von organischer Substanz bzw. von Organismen abstammend. Die Erläuterungen der amerikanischen Lexika um 1890 (Webster) gehen in die gleiche Richtung. Ist man nach dem intensivenund vollständigenStudium von Stills vier Büchern mit seiner Philosophie vertrauter, erscheint einem die Diskussion müßig. Wir lesen bei Still:
„Wenn ein Baum in einem Wald stirbt, so hört er auf, Blätter, Blüten und Früchte zu bilden. Er beginnt ein neues Leben zu leben, das genauso aktiv ist wie das Leben, als er noch ein lebendiger Baum war. Das zweite Leben oder der zweite Zustand ist gewöhnlich als Zersetzung bekannt. Sie setzt sich so lange fort, bis die vollständige Auflösung in sämtliche Atome erreicht ist. Nehmen wir an, der Baum ist seit 12 Monaten tot. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir jedoch, dass er nicht wirklich tot ist, sondern aktiv ein anderes Wesen hervorbringt, gemeinhin als Schwamm bezeichnet. Unter dem Mikroskop erkennen wir ein vollkommenes System, das von der Natur in Form eines schwammigen Wachstums bereitgestellt wird.“ ( Forschung und Praxis )
Kann man ‚biogen‘ noch anschaulicher beschreiben?
WUNDERMETHODE OSTEOPATHIE?
A. T. Stills Texte mit seinem Konzept des triune man scheinen sich nicht eindeutig von Akuttraumen abzugrenzen und damit eine Universalheilmethode zu suggerieren. Nun wurde die Chirurgie aber erst mit der flächendeckenden Einführung der Anästhesie gegen Ende des 19. Jhdt. langsam zu einem vollwertigen Bestandteil der Medizin. Davor galt sie als Hilfstätigkeit, die vorrangig von Laien wie Badern und einfachen Feldchirurgen ausgeübt wurde. Da sich Still jedoch auf den Medizinbegriff seiner Zeit bezieht, ist die Unterstellung, er hätte mit seiner Osteopathie sämtliche Fälle heilen wollen, aus medizinhistorischer Sicht als Fehlinterpretation zu werten.
Still beschreibt zudem immer wieder erfolgreiche Behandlungen von Tumoren. Normalerweise könnte man diese Feststellungen als realitäts-fern abtun. Hat man aber Stills Grundprinzipien bezüglich der Pathophysiologie verstanden, erscheint sein Ansatz insbesondere im Licht jüngster Forschungsergebnisse im Bereich der Immunologie in einem anderen Licht: Da in jedem Einzelnen von uns aufgrund natürlicher Umstände wie der kosmischen Strahlung täglich Tausende von Zellen entarten und damit zum potenziellen Tumorkeim werden, bedurfte es eines evolutionär gewachsenen Mechanismus, um diese Zellen unmittelbar nach ihrer Entartung zu beseitigen. Wie man inzwischen weiß, bieten bestimmte Teile des Immunsystems diesen Schutz auf ganz natürliche Weise. Blut gilt aber als Haupttransportmedium für das Immunsystem. Und schon schließt sich ein Kreis, denn ein Prinzip Stills besagt, dass sich der menschliche Organismus nur bei freiem Fließen der Körperflüssigkeiten (u. a. Blut) zu heilen vermag. Da eine aussagekräftige Vergleichsstudie mit anderen Behandlungsmethoden fehlt, ist eine endgültige Stellungnahme zur Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Osteopathie bei der Tumorbehandlung aus wissenschaftlicher Sicht streng genommen bis heute nicht möglich.
Stills große Leistung bestand nicht nur darin, die bahnbrechende Evolutionstheorie Spencers in die Medizin zu übertragen: Je mehr sich ver- und entsorgende Anteile des menschlichen Organismus in ihrem physiologischen Zustand befinden ( fitness ), desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Natur ihr Potenzial im Menschen entfalten kann (Autoregulation). 51Überleben, Gesundheit und Entwicklung erhalten dadurch beste Chancen. Die osteopathische Medizin war geboren.
Stills universaler Geist ging aber noch weiter: Die besagte Gesetzmäßigkeit betrifft neben matter (z. B. Arterien, Venen, Nerven etc.), auch mind (wissbegieriger Verstand), und die spirituell initiierte motion (bewusster Austausch mit einer übergeordneten Instanz als Lebensinteresse bzw. Motivation). Mit diesem Schritt zum triune man schlug er eine breite Brücke in die Antike. Dort wurde der Mensch bereits in seiner dreifach differenzierten Einheit erörtert. Ein bedeutender Nebeneffekt: Der Osteopath wandelt sich vom ‚Heilmacher‘ zum begleitenden Kunsthandwerker, Philosophen und Seelsorger – sozusagen ein triune osteopath als Vertreter einer triune osteopathy . Sie selbst stellt ihrerseits einen lebenden Organismus dar, bestehend aus matter (Wissen und Erfahrung), mind (Beobachtung und Verständnis) und motion (Suche und Ehrfurcht).
In diesem Sinne hoffen Herr Dr. Pöttner als Übersetzer und Lektor und ich als Herausgeber Ihnen mit der hier vorliegenden und sorgfältig überarbeiteten Neuauflage des Still-Kompendiums einen Wegweiser auf dem Weg zu Ihrer ganz persönlichen triune osteopathy in die Hand geben zu können.
„Erkenne dich selbst und lebe in Frieden mit Gott!“ (A. T. Still)
Christian Hartmann
Pähl, August 2005
1Louisa Burns, DO, Basic Principles (Nachdruck), Editions Spirale, Montreal, 2007, S.102f. Dt. Übers. v. C. Hartmann
2Trowbridge, Andrew Taylor Still 1828-1917 , JOLANDOS, Pähl, 2005, S. xiii.
3Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Osteopathie_(Alternativmedizin) , 15.09.2013. Einige Aussagen zu Still sind übrigens nachweislich falsch. Mit historischen Quellen eindeutig belegbare Gegendarstellungen werden konsequent ignoriert, was eine berufspolitisch handelnde Redaktion vermuten lässt. Interessierte finden die korrekten Darstellungen der fehlerhaften Aussagen im Diskussionsbereich (2013). Interessierten an diesem Themenkomplex sei an dieser Stelle The DOs: Osteopathic Medicine in America (Gevitz) wärmstens ans Herz gelegt. Auch Gevitz stellt am Ende des brillanten Buches die sarkastische Frage, was denn eigentlich der Unterschied zwischen osteopathischer und allopathischer Medizin sei und Osteopathie keine Zukunft hat, wenn sie diese Frage nicht beantworten kann.
4Siehe hierzu insbesondere die Einleitung des Übersetzers im Anschluss.
5[Anm. d. Hrsg.:] Auf Wunsch der Verfasserin wird das Vorwort im Englischen Original abgedruckt. Die Deutsche Übersetzung folgt im unmittelbaren Anschluss.
6Es ist möglicherweise hilfreich, wenn ich betone, dass diese auf der Unabhängigkeitserklärung, dem ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘ und der pragmatistischen Weiterentwicklung (s. dazu gleich) basierende Bewegung der Aufklärung in den Vereinigten Staaten in einem beachtlichen politischen und religiösen Gegensatz zu der heute in den Vereinigten Staaten dominierenden politischen und religiösen Strömung protestantischer Fundamentalisten steht. Man sollte Still, der beispielsweise Freimaurer war, nicht mit derartigen Positionen in Verbindung bringen.
7Carl P. McConnell, DO, T he Teachings of Dr. Still, Third Paper , JAAO August 1915, 641 – 651. Er bringt Stills Konzept besonders mit dem neu entstandenen Pragmatismus zusammen. Da Charles Peirce damals schon aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war, übersieht McConnell die Beziehungen, die auch zu diesem Philosophen bestehen. – Der Pragmatismus unterstellt, dass sich die Wahrheit von Überzeugungen, Behauptungen, Lebensentwürfen, Philosophien usf. nur so zeigt, dass man sich ihre praktischen Wirkungen genau vorzustellen vermag und wenn möglich, auch überprüft. Schon Aristoteles hatte daraufhin gewiesen, man erkenne am besten, was eine Badewanne sei, wenn man sich hineinlege…
Читать дальше