Eine ganze Reihe der Texte ab Kapitel XII scheinen ursprünglich gesprochen zu sein. Dabei zeigt sich, dass Still eine bedeutende Rednergabe besaß – eine in der angelsächsischen Welt bis heute im Unterschied zu Deutschland immer noch verbreitete Fähigkeit. Sie ist bei Still sicherlich durch die Erfahrung im methodistischen Elternhaus begünstigt. Hierzu gehört auch die Lektüre der christlichen Bibel, die alle rhetorischen Mittel und Muster enthält, die auch Still verwendete. Aber auch die vielen Auseinandersetzungen medizinischer und politischer Art in seinem Leben dürften hier – learning by doing – eine ganze Menge verfeinert haben. Als gutes Beispiel eines ausgezeichneten Redners ohne bestimmte rhetorische Ausbildung kann der Bundesaußenminister Joschka Fischer gelten. Beiden ist im Übrigen gemeinsam, dass sie Züge von Originalen aufweisen.
Die Philosophie der Osteopathie , Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie und Forschung und Praxis sind dagegen ganz andere Bücher. Am weitesten steht von diesen Forschung und Praxis der Autobiografie entgegen. Forschung und Praxis ist ein medizinisches Lehrbuch , das einen guten Überblick über Stills Kenntnisse von Krankheiten und Behandlungsmethoden gibt. Wer noch nicht weiß, sondern erst verstehen will, wie eine osteopathische Behandlung funktioniert und wie diese Behandlungsform begründet ist, wird hier fündig. Wie alle Bücher Stills beabsichtigt auch dieses Buch für medizinische Laien verständlich zu sein. In Forschung und Praxis ist am leichtesten verständlich, wie Still das eigentliche Hauptproblem des Schreibens wissenschaftlicher und philosophischer Bücher löste. Er musste die Fülle des Wissens übersichtlich und für Laien oder Studierende verständlich darstellen. In Die Philosophie der Osteopathie und in Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie hatte er dagegen noch experimentiert, sodass insbesondere Die Philosophie der Osteopathie eher unübersichtlich ist. Die beiden Philosophiebücher sind tatsächlich der Gattung nach medizinisch-philosophische Essays, welche die Prinzipien der Osteopathie als Philosophie und mechanische Wissenschaft darstellen, begründen und verteidigen. Darin sind sie den Kapiteln XII ff der Autobiografie verwandt. Aber sie unterscheiden sich in der Begründungstiefe und Detailliertheit ganz wesentlich von ihr. Hierin verweisen sie auf Forschung und Praxis voraus. Sieht man nur die Autobiografie , Die Philosophie der Osteopathie und Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie , dann könnte man behaupten, Still habe nur ‚Prinzipien‘ hinterlassen (Nicholas Handoll).
Da Forschung und Praxis aber zweifelsfrei von Still selbst stammt, muss diese Behauptung modifiziert werden. Dieser Text lässt im Übrigen teilweise erkennen, dass er aus dem Schulbetrieb in Kirksville hervorgegangen, jedenfalls aber darauf bezogen ist.
Man kann die medizinisch-philosophischen Bücher im engeren Sinn auf zwei Weisen darstellen:
(1) systematisch . Dann würde man die Prinzipien von Gesundheit und Krankheit zusammenhängend darstellen (im Falle Stills: detailliert mit allen Möglichkeiten des vor dem Hintergrund möglicher Fehlstellungen des Skeletts, der Muskeln und der Bänder störungsanfälligen Verhältnisses von nerve fluids bzw. nerve action und body fluids ) und im Anschluss vielleicht zu den Prinzipien markante Behandlungsbeispiele anführen – oder
(2) leserbezogen . Dann sucht man nach einem Darstellungsprinzip, mit dem die Lesenden (Behandler/innen und Laien) die entsprechende Krankheit finden, erschließen und beurteilen können. Selbstverständlich muss auch diese Darstellungsweise die Prinzipien von Gesundheit und Krankheit berücksichtigen, jetzt aber ganz praxisorientiert.
Still ist den zweiten Weg gegangen. Er versucht den Körper in Unterteilungen zu gliedern und Krankheiten bzw. Behandlungen auf diese Unterteilungen zu beziehen. In Forschung und Praxis liegt der reifste Entwurf vor. Danach gäbe es sieben solcher Unterteilungen des Körpers (Kopf, Rachen und Nacken, Brustkorb, Abdomen, die Bereiche oberhalb des Zwerchfells und unterhalb des Zwerchfells, dazu der spinale Bereich). 46Hinzu kommen aber noch Krankheiten und Behandlungsweisen, die mit diesem Muster nicht klassifiziert werden können oder jedenfalls aus praktischen Gründen nicht sollen. Eine eigene Abteilung stellen die Geburtshilfe und die Ansätze zur Kinderheilkunde dar. Am Anfang und Ende der Bücher stellt Still stets die Prinzipien dar und diskutiert sie philosophisch. Der Autor geht daher pragmatisch vor und hat didaktisch die Praktiker, aber auch die interessierten Patienten im Blick. Sie sollen erschließen können, worum es geht und wie behandelt werden muss. Beide überprüfen dann praktisch, ob das von Still Vorgetragene wahr ist. Der Patient erfährt es, wenn die Behandlung aus seiner Sicht erfolgreich war, er sich also gut fühlt. Und dies ist auch der Maßstab des Erfolgs des Behandelnden. Es gibt hier tatsächlich eine auffällige Parallele zu pragmatistischen Erwägungen:
Wenn wir von der Wahrheit sprechen, so sprechen wir unserer Theorie gemäß von Wahrheiten in der Mehrzahl, von Führungen, die sich im Gebiete der Tatsachen abspielen und die nur die eine Eigenschaft gemeinsam haben, dass sie sich lohnen. Sie lohnen sich eben deshalb, weil sie uns zu dem Teile eines Systems hinführen, das an verschiedenen Punkten in die Sinneswahrnehmungen eindringt, die wir in Gedanken abbilden können oder nicht können, mit denen wir aber jedenfalls in derjenigen Art von Verkehr stehen, die man allgemein als Verifikation bezeichnet. Wahrheit ist für uns ein allgemeiner Name für Verifikationsprozesse, so wie Gesundheit, Reichtum, Körperkraft Namen für andere Prozesse sind, denen man nachstrebt, weil es sich lohnt, ihnen nachzustreben. Die Wahrheit wird im Laufe der Erfahrungen erzeugt, so wie die Gesundheit, der Reichtum, die Körperkraft erzeugt wird. 47
Dr. Martin Pöttner
Heidelberg, den 21. Juli 2005
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS (2005)
Zugegeben: Stills Texte richtig zu verstehen ist mentale Schwerstarbeit. Die vorigen Ausführungen von Herrn Dr. Pöttner belegen jedenfalls, dass es mit einem einfachen Querlesen der vorliegenden Texte nicht getan ist. Dazu entpuppen sich Sprache und Gedanken Stills bei genauerer Betrachtung als viel zu komplex. Da aber insbesondere jüngere Vertreter therapeutischer Berufe kaum noch einen Zugang zu derartig geisteswissenschaftlich durchdrungenen Texten haben, möchte ich zusätzlich noch ein knappes Panoptikum bunt gemischter Aspekte aus meiner Sicht als Physiotherapeut und Arzt anbieten, das dem Leser helfen soll, sich besser in den Menschen Still zu versetzen. 48Die Zusammenstellung schließt zwar wesentliche Fragestellungen ein, die seit dem Erscheinen der Erstauflage vor drei Jahren an mich herangetragen wurden, sie erhebt aber keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit. Die meisten Ausführungen sind belegbar, andere basieren lediglich auf Indizien.
Da ich der festen Überzeugung bin, dass das Überleben der außergewöhnlichen Philosophie Stills ganz wesentlich von einer (selbst)kritischen laut und öffentlich geführten Diskussion über seine Person, sein Lebenswerk und seine Philosophie sowie deren Bedeutung für die heutige Medizin abhängt, habe ich mich zudem entschlossen auch ganz persönliche Spekulationen meinerseits einzubringen.
Wer Stills osteopathischer Philosophie wirklich nahe kommen möchte, wird nicht umhin kommen, sich ausführlicher mit der Zeit und den Umständen zu beschäftigen, in denen Still gelebt und gewirkt hat. Ohne eine zumindest rudimentäre Kenntnis insbesondere des ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘, des Methodismus, der zweiten Industralisierungswelle, der Evolutionstheorie Spencers und den vielfältigen politischen Freiheitsbestrebungen gerade im Grenzland Amerikas im 19.Jahrhundert, dürfte ein tieferes Verständnis der Texte jedenfalls erheblich schwerer fallen. Einen leichten Einstieg in alle wichtigen Themenbereiche bietet die Still-Biografie von Carol Trowbridge, einer langjährigen Mitarbeiterin des Still National Osteopathic Museum in Kirksville, Missouri. 49
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