Aus der Sicht eines osteopathischen Außenseiters sind dies die Hauptfragen, die sich an das Spencerproblem knüpfen und die damit verbundene mechanistische Sprache von Still: der Mensch als Maschine, Osteopath/inn/en als Ingenieure, Maschinisten usf. Es wird spannend sein, wie die Osteopath/inn/en auf dieses Problem reagieren.
Nach meinem Eindruck war sich Still der Problematik seines mechanistischen Sprechens wahrscheinlich bewusst. Daher wählte er für die Abschlussproblematik seiner Theorie (woher kommt das alles, wie ist es entstanden, wie bleibt es relativ stabil?) keine begrifflich-schlüssige Form, sondern eine Metaphorik , die aus seiner Beschäftigung mit dem Freimaurertum stammt. So gilt ihm Gott als der ‚Große Architekt‘, der ‚Große Vermesser‘, der das ‚Haus des Lebens‘, den ‚Aufbau‘ ( superstructure ) den menschlichen Körper planvoll, irrtumsfrei und vollkommen erbaut hat und über die von ihm verantworteten Naturgesetze (die ‚Pläne‘ und ‚Bauanleitungen‘) auch gegenwärtig indirekt reguliert, darunter den Gesetzen des Heilens, die Still entdeckt hatte. Es geht in dieser Metaphorik um die Betonung des intellektuellen Elementes, an dem der menschliche Verstand (der mind ) Still zufolge Teil hat. In Begriffen der europäischen und nordamerikanischen Religionsgeschichte ist diese Position Stills als deistisch einzustufen. Anders als andere Deisten aber wählt er nicht die Uhrmachermetaphorik (Gott als Uhrmacher, die Welt als perfektes Uhrwerk), sondern betont den intellektuellen Charakter Gottes durch die entsprechende Freimaurermetaphorik. Hierbei ist es m. E. wichtig, den Charakter als Metapher streng zu nehmen. Metaphern bezeichnen etwas als zugleich ähnlich und unähnlich. Sie übertragen etwas aus einem bestimmten gesellschaftlich-sprachlichen Bereich auf einen anderen, der vielleicht ähnlich, in jedem Fall aber auch genauso unähnlich ist. Auf diese Weise scheint sich Still von Spencers Lösungsversuch unterscheiden zu wollen. Spencer war im angelsächsischen Kontext m. W. der erste, der Abschlusstheorien überhaupt für logisch unmöglich hielt. Gleichwohl bleibt in unserem Bewusstsein ein derartiges Element enthalten, das wir aber über unsere Erfahrung und unsere Wissenschaft nicht einholen können. Daher hielt Spencer an der Abschlussfigur fest, erklärte aber ausdrücklich, dass man die letzten Fragen der Wirklichkeit nicht begrifflich-logisch oder durch Erfahrungserkenntnis erfassen könne. Mithin nannte er die letzte Wirklichkeit, auf der unsere Erfahrungswirklichkeit beruht, the unknowable – das Unerkennbare, nicht Wissbare.
Darauf findet sich mutmaßlich auch bei Still eine Reaktion:
When I looked up the subject and tried to acquaint myself with the works of God, or the unknowable as some call Him, Jehovah as another class say, or as the Shawnee Indian calls Him, the great Illnoywa Tapamala-qua, which signifies the life and mind of the living God, I wanted some part that my mind could comprehend. I began to study what part I should take up first to investigate the truths of nature, and place them down as scientific facts. 40
Dies ist ein typisch deistischer Text. Der Autor steht über den einzelnen Religionen und akzeptiert an ihnen nur das Schöpfungskonzept – worin sie übereinzustimmen scheinen. 41Unter den Gottesbezeichnungen findet sich auch Spencers ‚Unerkennbares‘. Es wird von unbestimmt Mehreren gebraucht, was rhetorisch möglicherweise die Position Spencers relativieren soll. Still mag aber auch gewusst haben, dass Spencers Bezeichnung der letzten Wirklichkeit im abendländischen Kontext nicht selten war. Entscheidend ist nun, dass er diese Position in der Folge auch inhaltlich, in der Sache zu teilen scheint:
Where will I begin? That is the question. What will I take? How is the best way? I found that one of my hands was enough for me all the days of my life. Take the hand of a man, the heart, the lung, or the whole combination, and it runs to the unknowable. I wanted to be one of the Knowables. 42
Die angesprochenen menschlichen Sachverhalte sollen zu den erkennbaren, dem Wissen zugänglichen Problemen gehören. Sie entstehen und bestehen aber vor einem unerkennbaren Hintergrund. Diesen drückt Still dann nicht nur negativ wie Spencer, sondern positiv mit einer freimaurerischen Metaphorik aus. Wird diese nicht schlicht vergegenständlicht, dann respektiert Still die Annahme Spencers, dass Abschlusstheorien logisch unmöglich sind. Gleichwohl muss man aus medizinisch-philosophischen Gründen von der schöpferischen Wirklichkeit sprechen. Denn diese garantiert die evolutionär gewordenen Selbstheilungskräfte und begrenzt auf diese Weise die Macht von Behandlern und Patienten. Still geht in gewisser Weise etwas weiter als Spencer, insofern seine Metaphorik zumindest offen lässt, dass Gott so oder ähnlich gehandelt hat, während Spencer dies strikt ausschließt. 43Eine Metaphorik schwebt stets ein wenig, sie lässt mehrere Möglichkeiten offen. Gleichwohl hat Still nach meinem Eindruck nicht vertreten, dass dem menschlichen Verstand alles ganz genau erschlossen sei, obgleich er am göttlichen Verstand Teil hat. 44Und dies spricht eher dafür, dass sein Mechanismus gebrochen ist – mindestens so stark wie dies bei Spencer der Fall ist. Insgesamt ist zu betonen, dass Still das Verhältnis Gottes zur Welt als Liebe versteht, genauso wie das ideale Verhältnis der Menschen untereinander. Hier folgt er z. B. biblischer Sprache, aber auch den zeitgenössischen Swedenborgianern. Dann aber ist das Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen nicht ausschließlich mechanistisch-kausal aufzufassen, sondern ein grundlegend sittliches Verhältnis. Auch in diesem ganz wichtigen Punkt überschreitet Still den Mechanismus der Industriekultur und folgt hierin insbesondere den romantischen, transzendentalistischen Impulsen. Dies muss beachtet werden, wenn man die Maschinenauffassung des Menschen in der Folge kritisch diskutiert.
4. DAS GLIEDERUNGSMUSTER DER MEDIZINISCHEN WERKE IM UNTERSCHIED ZUR AUTOBIOGRAFIE
Still gehörte wahrscheinlich zu den Menschen, denen es in der Jugend nicht vergönnt war, eine umfassende, jedenfalls breite Bildung zu erwerben. Zwar entstammte er einem bildungsbeflissenen methodistischen Predigerhaus, aber die Verhältnisse in der Pionierzeit des Amerikanischen Grenzlands waren einer dauernden Bildung nicht sehr günstig. Gleichwohl hielt Still offenkundig wenig von dem Spruch: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. So dürfte er die im Elternhaus erworbene Einsicht, dass der Mensch sich zu Lebzeiten soweit wie möglich vervollkommnen soll, um gut vorbereitet in die unüberbietbar vervollkommnende Ewigkeit zu gehen, auch als Bildungsauftrag verstanden haben. Wie viele intelligente Menschen, die aus ungünstigen Verhältnissen stammen, dürfte er daher einen unstillbaren Bildungshunger besessen haben. So wundert es letztlich auch nicht, dass er es im Alter von über 60 Jahren unternahm zu schreiben . Denn es ist klar, dass Still gewöhnt war, genau zu beobachten, schnell zu schließen, erfolgreich zu behandeln und in allerlei Geschäften wirtschaftlicher und politischer Art seine Lebensbestimmung zu finden. Und ohne Frage hat er viel gelesen, nicht zuletzt medizinische Literatur. Doch zur öffentlichen Darstellung in Büchern befähigt dies nicht zwingend. Hierbei wurde er durch den befreundeten Schriftsteller John Musick bei seinen ersten beiden Büchern unterstützt, ob noch weitere Unterstützer/innen hinzukamen, ist nicht bekannt, obgleich Still dies am Ende der Autobiografie andeutet. Wer aufmerksam Stills Texte liest oder meditiert, wird bald auf ihre sprachliche Gestalt aufmerksam. Stills Sprache ist oft witzig, ironisch, hintergründig. Er liebt auch den Sarkasmus und stellt insbesondere in seiner Autobiografie bestimmte Überzeugungen allegorisch dar, d. h. er erfindet Geschichten, in denen man den gemeinten Hintergrund recht leicht erkennen kann. Wie schon erwähnt, ist die Autobiografie ganz auf das Entstehen der Osteopathie und besonders auf die (von Still wohl eher zögernd betriebene) Aufnahme des Schulbetriebs an der American School of Osteopathy hin ausgerichtet. Still schildert von sich vor allem seinen (früheren) religiösen Hintergrund, die Eindrücke im Grenzland, insbesondere das Leben im ‚Buch der Natur‘, und die Teilnahme am Bürgerkrieg. Dass Still seine frühen religiösen Auffassungen verändert hatte, stärker aufklärerisch gesonnen und Freimaurer geworden war, erfahren die Leser/innen nur in sehr versteckten Andeutungen. Er stellt die Ablösung von der väterlichen und mütterlichen Religiosität konsequent in den Kontext seiner Entdeckung der Osteopathie. Dabei gibt er vor, dass er eigentlich den Sinn der positiven Seiten aller Religionen ohnehin besser verstanden hatte als diese selbst. Falls die ‚Weisen der Kanzel‘ ihre eigenen Worte ernst nähmen, dass Gott vollkommen sei und seine Schöpfungswerke ebenfalls, dann hätten sie schon längst den Widerspruch erkennen müssen, der darin liegt, dass man auf den vollkommenen Gott vertraut, zugleich aber bei Krankheiten Medikamente verordnet. 45 Denn in der vollkommenen Schöpfung Mensch sind schon alle Medikamente enthalten. Wendet man diese religiös formulierte Einsicht stärker aufklärerisch, wie Still es tat, dann besagt sie, dass die ‚Naturgesetze irrtumsfrei‘ sind. Gehört zu diesen Naturgesetzen das Bestehen von Selbstheilungskräften, dann muss man nur den Weg finden, wie diese bei einer eventuellen Blockade freigesetzt werden können. Diesen Grundgedanken variiert Still ab Kapitel XII in seiner Autobiografie unaufhörlich und gibt einen Einblick in sein reiches naturbezogenes und kulturelles Wissen, jedenfalls seine breite Beschäftigung mit natürlichen und kulturellen Sachverhalten.
Читать дальше