Für Still, wie auch für die meisten Menschen, ist die Tatsache, dass der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit darstellt, unbestritten. Aber Still geht noch weiter und fordert dies auch im therapeutischen Handeln und Denken der Osteopathen ein. Aus dem allmächtigen medizinischen ‚Macher‘ wird ein osteopathischer ‚Mittler‘, der die Natur als eigentlichen ‚Heiler‘ anerkennt. Dieser Wandel zur inneren Bescheidenheit, das Zerstören des therapeutischen Egos zu Gunsten eines humanistischen Miteinanders, bildet bis heute die größte Herausforderung für jeden einzelnen Behandler.
Fakt bleibt: Die klassische Osteopathie und die moderne Medizin mit Ausnahme des psychosomatischen Zweiges stehen sich bezüglich der Bedeutung der Spiritualität für die Behandlung nach wie vor fast diametral gegenüber. Die zunehmende Etablierung des Begriffs ‚Osteopathische Medizin‘ insbesondere in orthopädischen und allgemeinmedizinischen Kreisen zeugt daher entweder von Unkenntnis oder Desinteresse an der tieferen Bedeutung der Osteopathie – was noch entschuldbar wäre – oder aber von kalkulierten machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Dass diese Geisteshaltung langfristig dem Ansehen und damit auch dem Marktwert der gesamten Osteopathie und damit auch der ‚Osteopathischen Medizin‘ schaden wird, ist bereits offenkundig.
Elektrizität gehört inzwischen so selbstverständlich zu unserem Alltag, dass wir kaum noch nachvollziehen können, welche enorme Wirkung sie auf die Menschen insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert gehabt haben mag. Tatsächlich gehört die Elektrizität wie auch Wasser und Licht im Zusammenhang nach wie vor zu den rätselhaftesten Phänomenen der Natur. John Wesley, dem Begründer des Methodismus, durch welchen Still in seinen jungen Jahren nachhaltig beeinflusst wurde, galt sie als Trägerin allen dies- und jenseitigen Lebens. Auch die Spiritisten, Magnetiseure und Mesmeristen, welche die Medizin Amerikas stark beeinflussten und mit denen sich Still ausgiebig beschäftigte, hatten eine vergleichbare Überzeugung. Unter diesem Aspekt sind Stills Ausführungen über die Elektrizität und ihre Bedeutung für das menschliche Lebewesen weit über den rein technischen Aspekt hinaus zu deuten.
Erst während der Übersetzungsarbeiten zu John Wesleys Natürliche Arzneien wurde mir klar, dass der Einfluss des Begründers des Methodismus auf Stills Osteopathie weniger im religiösen, als vielmehr im medizinischen Bereich anzusiedeln ist – dort aber scheint er bedeutsam. Hier nur ein Beispiel:
„Einen großen Vorteil haben die meisten in diesem Buch aufgeführten Arzneien gegenüber den üblicherweise angewandten: Der Leser kann sicher sein, dass sie in ihrem Aufbau gut sind, d. h. sie sind rein, ursprünglich, einfach. Aber wer kann sich darauf verlassen, wenn die Medizin, die er verwendet, von einem Apotheker zusammengestellt wird? Vielleicht hat dieser den Wirkstoff, den der Arzt verschrieb, nicht zur Hand und verwendet stattdessen etwas anderes, ‚das ähnlich wirkt‘. Vielleicht hat er den Wirkstoff, aber er ist verdorben und unbrauchbar geworden. Aber Sie würden nicht wollen, dass er die Medizin wegwirft, denn vielleicht kann er sich das nicht leisten. Vielleicht kann er sich nicht leisten, die Arznei so zu mischen, wie es die Herstellungsordnung vorsieht, und kann sie auch nicht zum üblichen Preis verkaufen. Also wird er billigere Inhaltsstoffe verwenden und Sie nehmen schließlich etwas ein, was weder Sie selbst noch der Arzt kennen! Wie viele Schwierigkeiten muss dies hervorrufen! Die Gesundheit wie vieler Menschen wurde hierdurch bereits ruiniert! Wie viele wertvolle Leben sind dadurch bereits verloren!“ 50
Immer wieder liest man den Begriff ‚Arterie als König‘, ohne dass dies weiter ausgeführt wird. Leider führt dieses Versäumnis zu einer schwerwiegenden Missinterpretation, denn es impliziert mit der Heraushebung des arteriellen Blutflusses einen Absolutpunkt für die Gesundheit des Menschen. Stills osteopathische Philosophie ist aber wesentlich komplexer. Alles entscheidend ist dabei die frei fließende Wechselwirkung und Kommunikation sämtlicher stofflicher und nicht-stofflicher Systeme des menschlichen Lebewesens, das streng den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgend das Potenzial der Selbstregulierung per se in sich trägt. Arterien, Venen, Nerven- und Lymphsystem sind hierbei gleichrangige Strukturgeber. Flüssigkeiten, Gase und Elektrizität die sie füllenden und vermittelnden Medien. Aber auch die Lebenseinstellung und das spirituelle Bewusstsein müssen streng genommen gleichrangig in dieses evolutionäre Fließkonzept eingebunden werden. Scheinbar moderne Ansätze innerhalb der Osteopathie wie Biodynamik und Fluid-behandlung entpuppen sich beim Studium der Werke von Still, Littlejohn und Sutherland demnach rasch als altbekannte, aber rhetorisch geschickt aufbereitete und aufgrund ihres vereinfachenden Charakters gut vermarktbare Weisheiten.
Ebenso wie für seinen späteren Schüler und Entdecker der Kranialen Osteopathie, W. G. Sutherland, stellte auch für Still das Verständnis des Nervensystems einen Generalschlüssel zur osteopathischen Behandlung dar. Still wäre aber nicht Still, hätte er nicht auch hier eine bis heute ungeklärte Besonderheit erörtert. Insbesondere die Begriffe ‚nährendes‘, ‚mentales‘ oder ‚emotionales‘ Nervensystem geben Anlass zu weit reichenden Spekulationen. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass aber die Klärung dieser Frage einen bedeutenden Einfluss auf den osteopathischen Behandlungsansatz haben könnte. Wertvolle Informationen zu diesem Thema finden Sie in der Dissertation Still’s Fascia der kanadischen Osteopathin und gegenwärtig wohl weltweit bedeutendsten Still-Historikerin, Jane Stark DO.
Fragt man Osteopathen, was sie unter ganzheitlicher Behandlung verstehen, bekommt man oft zu hören, dass die Behandlung eines Körperteils sich auf den gesamten restlichen Körper auswirkt. Dies entspricht aber nicht der ganzheitlichen Behandlung im Sinne Stills osteopathischer Philosophie. Da der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit darstellt, muss die Ganzheitlichkeit auch die mentalen und spirituellen Aspekte des Menschen (Patienten undTherapeut) einschließen – auch wenn Still dies nicht explizit ausführt. Ein Osteopath erfüllt demnach drei Funktionen zugleich: Er behandelt den Körper, er regt zur Selbsterkenntnis an und er interessiert sich für die seelischen Aspekte. Für Still ist der Osteopath Körperarzt, Psychologe und Seelsorger in einer Person.
Anhänger alternativen Heilmethoden sind immer wieder von Stills ablehnender Haltung gegenüber der Homöopathie überrascht. Dabei ist ziemlich offensichtlich, wie er zu dieser Einstellung kam:
„Ich erklärte weiterhin, dass der menschliche Körper Gottes Apotheke sei und alle Flüssigkeiten, Medikamente, feuchtende Öle, Opiate, Säuren und Laugen und überhaupt alle Arten von Medikamenten in sich trage, welche die Weisheit Gottes für menschliches Glück und Gesundheit als nötig erachtet hat.“
Sobald alle Anteile des Menschen richtig angepasst sind, bedient sich der Körper in ‚Gottes Apotheke‘ und reguliert sich dadurch selbst. Für Still bewies die Zufuhr zusätzlicher Substanzen unabhängig von Wirkmechanismus oder Dosis ein mangelndes Vertrauen in die Vollkommenheit der Schöpfung – dem Kernstück von Stills osteopathischer Philosophie. Zusätzlich muss festgestellt werden, dass auch das umfassende Konzept Hahnemanns bis heute nur von wenigen Homöopathen wirklich vollständig durchdrungen und entsprechend angewendet wird, was unweigerlich zu einer Mittelwahl nach persönlichen Vorlieben oder nach vorgegebenen Schemen und Tabellen führt. Es ist anzunehmen, dass diese Praxis auch zu Stills Lebzeiten weit verbreitet war und seiner Skepsis damit zusätzlich begründete Nahrung verschafft hat.
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