»Doktor Samuel Lindner und meine Aileena – nein, das ist was! Ich kenne seine Frau, reizendes Geschöpf! Es ist gut, dass du sie da rauslässt, sie wäre am Boden zerstört.«
»Bist du gerade ernsthaft stolz auf mich, weil ich diesen Typen klargemacht habe?«
»Natürlich!« Bea grinste und fuhr dann ernst fort: »Du wusstest nicht, dass er verheiratet ist, und du warst verliebt und blind. Das passiert jedem. Und als du es herausbekommen hast, hast du es beendet. Du hast dir also nichts vorzuwerfen. Bist du denn nicht selbst ein kleines bisschen stolz auf so einen Fang?«
»Nein!«, log ich.
Bea sah mir vermutlich an der Nasenspitze an, dass ich nicht die Wahrheit sagte, ging aber nicht weiter darauf ein. »Mir zeigt es jedenfalls, dass du etwas an dir hast, das du selbst nicht siehst. Und dass er nicht von dir loskommt, zeigt es noch mehr.«
Ich betrachtete sie von der Seite. Ihr, die es immer als größte Schande angesehen hatte, von einem »lohnenden« Mann abserviert zu werden, imponierte meine Situation unweigerlich.
»Es ist wohl die Tatsache, dass er mich nicht haben kann, die ihn fasziniert.«
»Ah, die Mon-Chéri-Taktik!«
»Bitte was?«
»Du machst dich rar!«
Spätestens in dem Moment bezweifelte ich, dass das hier eine gute Idee gewesen war, aber Bea blieb stehen und sah sinnend zum Himmel. »Entschuldige, ich bin nicht so geübt in alledem«, bekannte sie sanft.
Dann griff sie auf einmal nach meiner Hand und zog mich die Scharfe Lanke entlang zum »Café Wasserblau«. Sonntags war hier immer ab neun geöffnet.
»Hier ist noch keiner!«, sagte ich deshalb.
»Doch, die müssen ja vorbereiten!«
Ich sah tatsächlich zwei Leute hinter den hohen Glasscheiben. »Ich denke, das ist Sperrgebiet?«
»Nur weil sich Klaus mit dem Wirt überworfen hat, hab ich doch kein Hausverbot!«
Ich wollte fragen, wer sie ist und was sie mit meiner Mutter gemacht hatte, war jedoch zu verwundert, auch nur einen Piep von mir zu geben.
Bea klopfte an die Scheibe, und ein Mann näherte sich. Das musste der Typ sein, mit dem Klaus Streit gehabt hatte. Bis dahin waren Klaus und Bea oft im »Wasserblau« zu Gast gewesen. Nach dem Zerwürfnis war das Restaurant auf die schwarze Liste gesetzt worden. Dass Bea rebellierte, war meines Wissens noch nie vorgekommen. Ich fragte mich kurz, worum es bei dem Streit gegangen war, doch als ich sah, wie Bea von dem Typen begrüßt und sofort hineingebeten wurde, erübrigte sich meine Frage. Uns wurde ein Tisch hergerichtet, und Bea bestellte kohlenhydratreiches Brot mit den Worten »Wir brauchen gleich eine Basis«. Ich wusste nicht, wann ich meine Mutter das letzte Mal in ein Brötchen hatte beißen sehen. Sie verschlang es gierig, und dann bestellte sie zwei kleine Gläser und eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn. Ich starrte ungläubig auf das Gedeck.
»So, Kind, wir klären das jetzt!«, bestimmte Bea. Und für einen kurzen Moment sah ich sie als Anfang Zwanzigjährige mit ihrer Dauerwelle neben Oma in der Küche sitzen, als die genau diese Worte zu ihr sagte.
Sie schenkte ein. Ich nahm verstört mein Gläschen entgegen. Unser erstes Mutter-Tochter-Gespräch und unser erstes Gelage in einem. Wir tranken.
»Du willst ihn loswerden?«, fragte Bea, das Antlitz verzogen wegen des Schnapses, der ihre Kehle hinabfloss.
Ich nickte, während das Gesöff mir die Innereien anheizte, und musste an mich halten, als ich in ihr ernstes Gesicht sah. Sie füllte erneut beide Gläser und sah mich entschlossen an. Wieder einmal fiel mir auf, was für hübsche Hände und Fingernägel meine Mutter hatte. Warum war die Natur so ungerecht?
Wir tranken, und kaum hatte sie den Korn hinuntergeschluckt, sagte sie zu mir: »Sag ihm knallhart, aber respektvoll, dass es vorbei ist. Respekt ist das Wichtigste, auch wenn er ihn nicht verdient.« Sie fügte hinzu: »Männer neigen andernfalls zu großer Ungerechtigkeit.«
Ich schaute verdutzt, und Bea sagte: »Glotz nicht wie ’ne Kuh, wenn’s donnert!« Wir tranken ein weiteres Glas, ehe sie erklärte: »Wir übn dit jeze. Ik bin Sam, und du bist du!«
Ich setzte an, und Bea unterbrach mich rüde. Ich versuchte es erneut, wieder fiel sie mir ins Wort, und schließlich gab sie mir den mütterlichen Rat: »Respektvoll heißt nicht, dass du um den heißen Brei reden sollst! Los, noch mal!«
Sie schenkte mir ein, wir tranken. Ich versuchte es erneut – diesmal knallhart. Da ließ sie mich ausreden, um mir am Ende eine Szene zu machen, dass mir bange wurde. Sie tat wirklich so, als sei sie Sam. Dann bekam ich noch eine Chance – und noch eine und noch eine. Zwischendurch tranken wir nur noch winzige Schlucke Nordhäuser. Bea gab derweil alle möglichen Männerreaktionen zum Besten. Irgendwann konnten wir nicht länger an uns halten und lachten, lachten, lachten.
Danach wurden wir mit einer großen Portion Rührei überrascht, die wir mitsamt den Brötchen und der Butter gierig verschlangen. Bea hatte kein Geld dabei, also bezahlte ich alles. Draußen an der frischen Luft wurde uns erst schlecht, doch dann ging es uns richtig gut.
»Ich rufe ihn jetzt an – wenn du hier bleibst«, sagte ich zaghaft, und meine Mutter nickte heftig, während sie meine Hand drückte.
Doktor Arschkrampe ging sofort dran. Der Alkohol hatte meine Zunge gelockert und zähmte meine Wut, sodass ich selbstbewusst zu reden begann. Ich gab die Entschlossene, dann die Kumpelhafte, und schließlich fragte ich ihn gestellt zärtlich: »Es ist aus – hast du das verstanden?«
Er schwieg.
»Willst du deswegen wirklich den Vertrag kündigen und meinem Geschäft schaden?«
»Nein«, bekannte er zu meiner Überraschung.
»Ich freue mich, euch weiter zu beliefern. Wenn du willst, macht Pami das künftig immer.«
»Wird nicht nötig sein. Mir egal, wer liefert.« Er klang wie ein bockiges Kind.
»In Ordnung, dann bis bald!« Kaum hatte ich den Satz beendet, legte er auf. Mir war, als fiele ein zehn Zentner schwerer Stein von meinem Herzen.
Meine Mutter strahlte mich stolz an, sie sah aus, als würde sie mir gleich um den Hals fallen. Ich erinnerte mich nicht, dass es jemals so einen Moment zwischen uns gegeben hatte. Plötzlich surrte ihr I-Phone, das sie an ihrem Oberarm befestigt hatte. Vorhin hatte sie den Ton komplett ausgestellt. Klaus, der Troll rief sie an.
»Beatrix, endlich!«, hörte ich seine Stimme knurren. »Ich suche dich seit Stunden, ich habe über zehnmal angerufen!«
Er hatte offenbar alles versucht, außer loszugehen und sie zu finden.
»Beruhige dich, Schätzchen!« Bea sprach so nüchtern und hochdeutsch, wie sie konnte. »Ich habe eine Freundin getroffen, und wir haben uns festgequatscht.«
»Ja, aber …«
»Ach, Liebster«, gurrte sie, »wie süß, dass du dir Sorgen machst! Ich wollte dich nicht erschrecken. Sei nicht böse mit mir, ja?«
Ich wurde Zeuge, wie sie ihn um den Finger wickelte. Noch eine Seite, die ich an meiner Mutter so zuvor nie beobachtet hatte. Es gelang ihr, ihn zu beruhigen und aufzulegen.
Inzwischen standen wir auf dem Bürgersteig, nicht sicher, was als Nächstes passieren sollte. Umständlich streckte ich die Arme aus. Bea schien auf diesen Moment gewartet zu haben und tat es mir gleich. Eine hölzerne Umarmung folgte. Ich hätte sagen können, dass ich sie lieb hatte, aber die Worte blieben mir im Hals stecken.
»Meld dich Mittwoch, wie’s gelaufen is’«, flüsterte sie, als wir uns voneinander lösten.
»Mach ich, und vielen Dank!«
Sie strich mir zum Abschied über die Wange und bog dann in den Höhenweg ein. Ich sah ihr noch kurz hinterher und ging schließlich zurück zur Bushaltestelle. In meinem Bauch rumorte eine friedliche Mischung aus Doppelkorn und Zuneigung.
Der Bus 134 fuhr gerade vor, als ich an der Ecke ankam. Der Busfahrer sah mich und wartete. Ich lächelte zum Dank, torkelte an ihm vorbei und nahm im Augenwinkel wahr, dass er den Kopf schüttelte. Erst wollte ich protestieren, dass ich gar nicht betrunken sei, dann fiel mir aber ein, dass es gelogen wäre. Ich ließ mich wieder auf einen Sitz über einer Heizung nieder und dachte über meinen Morgen nach. Am Bahnhof Spandau nahm ich die Regionalbahn Richtung Cottbus, um erst nach Lichtenberg und von dort aus mit der S-Bahn zurück nach Springpfuhl zu fahren. Etwa auf der Höhe vom Zoo zückte ich kurz entschlossen mein Telefon und verfasste eine lange Nachricht an Bea. Ich schrieb, dass der Morgen toll gewesen war, dass sie toll war, dass unser Verhältnis jetzt richtig toll würde und dass wir unser Treffen bald wiederholen sollten. Ich nannte sie sogar Mutti und endete mit Ich hab Dich lieb . Die Nachricht wurde mir erst als gelesen angezeigt, als ich schon über den Helene-Weigel-Platz lief. Bis dahin hatte Bea vermutlich mit Klaus zu tun gehabt. Kurz wurde angezeigt, dass sie mir schrieb, dann schien sie ihr Telefon nicht mehr anzufassen: Zuletzt online um 11 : 58 .
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