„Gern, aber es gefällt mir trotzdem nicht, dass du in einem Privatjet in der Gegend herumfliegst.“ Ein bisschen ließ die Anspannung in ihrer Stimme jetzt nach. „Ich freue mich, dich bald wiederzusehen.“
Er war den ganzen Dezember nicht zu Hause gewesen. Ein Pokalspiel nach dem anderen hatte dafür gesorgt, dass er ständig unterwegs gewesen war, sogar über Weihnachten.
Sie plauderten noch ein bisschen, während Bruno auf der kurvigen zweispurigen Straße, die von kahlen Ahornbäumen und hohen Pinien gesäumt war, hinter Coach Brown herfuhr.
Er wollte sich gerade von seiner Mutter verabschieden, weil sie zum Haus des Coaches abbogen, als seine Mutter sagte: „Es gibt da noch eine Neuigkeit, die ich dir verschwiegen habe, Bruno.“
„Was denn?“, erkundigte er sich und parkte seinen Wagen hinter dem Truck vom Coach, schaltete den Motor aus und spürte einen leichten Adrenalinstoß. War sie krank? Krebs? Nein, denk gar nicht dran. Hatte sie jemanden kennengelernt?
Ihre Stimme hatte den gleichen Klang wie damals, als sie ihn wegen des Unfalls angerufen hatte. Oder als sie ihm gesagt hatte, dass sein Vater gestorben sei.
„Es geht um Miss Everleigh, mein Junge. Sie ist gestorben.“
„Miss Everleigh? Wann?“, fragte Bruno und schaute aus dem Fenster, während ihn der Coach ins Haus winkte. Doch statt auszusteigen, legte er den Kopf aufs Lenkrad.
Er hatte gerade ein Stück seiner Kindheit verloren, das ihm heilig war. Die Frau mit dem engelsgleichen Gesicht hatte sein ganzes Leben lang gegenüber gewohnt. Die Frau im Memory House – wie er es als Kind genannt hatte – hatte ihm beigebracht, wie man Chocolate Chip Cookies backt, Marshmallows grillt und die Arche Noah aus Eisstielen bastelt.
In dem weitläufigen viktorianischen Gebäude mit seinem Türmchen, den Erkern und der Wendeltreppe hatte er seine Nachmittage verbracht, nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte und seine Mutter in zwei Jobs hatte arbeiten müssen. Und in Miss Everleighs Garten hatte er sich mit acht Jahren verliebt – in Beck Holiday –; seit Jahren hatte er nicht mehr an sie gedacht.
„Direkt nach Thanksgiving.“
„Thanksgiving? Und dann sagst du es mir erst jetzt? Habe ich jetzt etwa die Trauerfeier verpasst?“
„Nein, die ist am nächsten Sonntagnachmittag. Miss Everleigh wollte nicht, dass viel Aufhebens um ihr Begräbnis gemacht wird, aber der Pastor hat anders entschieden. Weil wegen der Feiertage – besonders Thanksgiving – viele Leute nicht zu Hause waren, sondern zu Besuch bei Verwandten, ist der Trauergottesdienst verschoben worden. Schaffst du es, bis Sonntag zu Hause zu sein?“
„Ja sicher.“ Er würde es sich ganz bestimmt nicht nehmen lassen, von der einzigen „Großmutter“ Abschied zu nehmen, die er je gehabt hatte.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, stieg er aus dem Wagen und schaute zum grauen, regnerischen Horizont.
„Ruhen Sie in Frieden, Miss Everleigh.“ Er hatte sie eigentlich häufiger besuchen wollen, nachdem er wieder nach Fernandina Beach zurückgekehrt war, aber der Sichtungsmarathon ließ ihm kaum Zeit, sich um das eigene Leben, geschweige denn um das anderer Menschen zu kümmern.
„Bruno! Das Essen ist fertig“, rief der Coach zum offenen Garagentor heraus. „Und außerdem fängt es an zu regnen. Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man dann ins Haus geht?“
„Ich komme.“
Im Haus lachte Tyvis mit einer schlanken Frau mit rötlichem Haar und neugierigem Blick. Neben seiner dunklen, muskulösen Figur wirkte sie wie ein Zwerg, aber die Stärke, die er ausstrahlte, war sanft. Die Szene war wie Balsam nach dem, was er gerade von seiner Mutter erfahren hatte, und als Bruno jetzt diese Szene sah, wünschte er sich solche Augenblicke auch für sein eigenes Leben – vielleicht sogar eine eigene Familie.
Aber dazu musste er sein Leben entschleunigen, eine Beziehung mit einer Frau eingehen, die länger hielt als nur ein Date, und sich innerlich mehr öffnen.
„Ich hoffe, Sie haben Hunger“, sagte der Coach und schob Bruno in den Raum.
„Das kann man wohl sagen“, erklärte er und schaute erst Tyvis und dann Mrs. Brown an.
„Ich bin bereit fürs Essen.“
Als sie aufwachte und Tageslicht in ihr Schlafzimmer in East Flatbush strömte, grummelte sie und blinzelte gegen die Helligkeit an. Sie kuschelte sich noch einmal unter die Decke und stieß dabei gegen einen warmen Körper, der zusammengerollt neben ihr lag.
Als die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Abends zu ihrem noch schlaftrunkenen Hirn durchdrang, setzte sie sich auf und schlug die Bettdecke zurück. Boudreaux – der Hund – vier Stunden in der Tierklinik.
„Hey, mein Kleiner. Frohes neues Jahr.“ Ganz vorsichtig kraulte sie den Hund hinter den Ohren. „Hast du gut geschlafen?“
Mit einem leisen Winseln versuchte er, die Augen zu öffnen, aber die Erschöpfung und die Medikamente, die er bekommen hatte, hatten ihn noch fest im Griff.
Laut Tierarzt war er ein Zwergschnauzer, fünf bis sechs Jahre alt, unterernährt, dehydriert, und von Flöhen und Würmern befallen.
Sie hatten ihn geröntgt, mithilfe einer Ultraschalluntersuchung eine Bestandsaufnahme von seinen inneren Verletzungen gemacht, ihn dann mit Antibiotika und Flüssigkeit versorgt und schließlich Beck mit Spezialnahrung und Instruktionen für seine Behandlung nach Hause geschickt.
„Kommen Sie in zwei Wochen wieder, dann können wir ihn gründlicher untersuchen“ , hatte es geheißen.
Der kleine Kerl sprach zwar sofort gut auf die Flüssigkeitszufuhr und die Nahrung an, aber der Tierarzt war besorgt, dass es doch noch zu unvorhergesehenen Komplikationen kommen könnte.
Beck stand auf, zog die Vorhänge zu und legte sich wieder neben ihren neuen Freund.
Er seufzte leise, als sie seine Pfote streichelte. Auf dem Weg zur Klinik hatte sie ihn Beetle Boo genannt, und nachdem der Tierarzt diesen Namen dann auch auf die Patientenkarte geschrieben hatte, war es besiegelt gewesen.
Es klopfte leise an ihrer Tür. „Frohes neues Jahr, Beck. Bist du wach?“, sagte ihre Mutter leise und spähte vorsichtig ins Zimmer. „Du bist später nach Hause gekommen als …“ Sie verzog den Mund und sah jetzt in ihrer pinkfarbenen Krankenhauskleidung und der blassen Winterhaut aus wie ein zorniges Eis am Stiel. „Ein Hund? Also bitte, Beck, du weißt doch, dass Flynn allergisch ist.“
„Ich wünsche dir auch ein frohes neues Jahr, Mama“, sagte Beck darauf, drückte mit geschlossenen Augen ihre Stirn gegen das winzige Hundegesicht und atmete den Duft des sauberen Fells ein. Sie hatte den Raum verlassen müssen, als der Tierarzt angefangen hatte, den Hund zu säubern, indem er ihm dicke Klumpen völlig verfilzten Fells abrasierte, so furchtbar hatte Beetle Boo dabei gejault und gewinselt.
„Gibt es zu dem Hund auch eine Geschichte?“, fragte ihre Mutter jetzt.
„Keine Sorge, ich suche mir eine eigene Wohnung. Du brauchst also nicht lange ein Haustier zu ertragen“, sagte Beck nur.
„Jetzt sei doch nicht gleich so kratzbürstig. Es ist nur, weil Flynn allergisch gegen Hunde ist.“
Sie hatte nie die Absicht gehabt, mit einunddreißig Jahren noch bei ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem kleinen Bruder zu wohnen, aber als letztes Jahr ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Sarah in Stuytown geheiratet hatte, war Beck vorübergehend wieder in ihr altes Zimmer in East Flatbush gezogen.
Aus Tagen waren Wochen und aus Wochen Monate geworden und im Nu war ein Jahr vergangen. Inzwischen hatte sie genug gespart, um sich eine eigene Wohnung zu nehmen und gerade einen Mietvertrag unterschreiben wollen, als sie gemerkt hatte, dass ihr Abend im Rosie’s und das Zusammentreffen mit Hunter Ingram Folgen hatte.
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