Manchmal strahlten ihre Augen so sehr, dass man glaubte, das Aufgehen eines Sternes in ihren Augen zu sehen. Wenn sie Menschen aus dem Dorf ansah, hatten diese das Gefühl, sie könnte ihnen bis auf den Grund der Seele blicken. Aviva hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihren Augen anders war; sie konnte nicht verstehen, warum, doch die meisten Menschen wichen ihrem Blick aus. Manchmal glaubte sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte, da sie in vielem so anders war als der Rest der Sippe.
„Du schaffst das“, flüsterte sie nun ihrem Spiegelbild zu. Ihr Gesicht besaß etwas Würdevolles und Anmutiges, gleich den Beduinen aus der Wüstenlandschaft. Trotz ihrer reinen, elfenbeinartigen Haut hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Nomadenmädchen. Niemand konnte nachvollziehen, warum sie diese helle Haut besaß, denn ihre Großmutter hatte einen dunklen Teint und auch die Haut ihrer beiden Schwestern und die ihres jüngeren Bruders war deutlich dunkler.
Aviva zuckte zusammen. Es war ein Fauchen und Knurren, das sie aus ihren Gedanken riss. Wölfe und andere Raubtiere gab es zuhauf hier in den Karneolen, wo ihr kleines Dorf Cagor gelegen war. Hätten nicht die Wachen Alarm schlagen und der Jäger des Dorfes sich als Verteidiger der Sippe darum kümmern müssen, wenn sich in dieser Nacht ein wildes Tier herangeschlichen hatte? Wieder knurrte das Raubtier. Dieses Mal noch lauter. Es hatte sich also näher herangewagt. Aviva hielt den Atem an.
Da! Noch ein anderes Geräusch! Es war ein angsterfülltes Blöken, das nur von einem der jungen Lämmer stammen konnte. Da sie öfter mit dem Wanderhirten Leroy die Schafe hütete, hatte sie zu unterscheiden gelernt, ob das Blöken eines Schafes angsterfüllt klang oder es einfach nach seiner Mutter rief. Sie versuchte herauszufinden, woher das Blöken kam, und dachte daran, dass sie vor einer Weile ein Loch in der Stallwand entdeckt hatte, das noch nicht geflickt worden war. Hatte sich etwa eines der Lämmer nach draußen verirrt? Oder ist das Raubtier schon innerhalb der Schutzgrenze? Sie horchte und ihr Herz pochte wie wild.
Warum regt sich draußen niemand? Wahrscheinlich liegen die Wachen wieder betrunken in ihren Betten. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer und gelangte geradewegs in den Schlafraum der Großmutter, der gleichzeitig als Wohn- und Besuchsraum diente. Erkennen konnte Aviva nichts, da vor dem kleinen Fenster ein Tuch hing. Das leise Schnarchen der Großmutter aber beruhigte sie. Behutsam öffnete sie die schwere Holztür und schlüpfte hinaus.
Es war eine sternklare Nacht und der Mond schien hell. Das Dorf sah so friedlich aus. Genau in der Mitte lag der Dorfplatz. Hier fanden die öffentlichen Versammlungen statt. Kleine und größere Hütten aus Lehm, aber auch einige Holzhäuser waren rund um den Dorfkern angesiedelt. Die äußeren Hütten waren für die Jäger des Dorfes bestimmt, deren Aufgabe es war, Nahrung zu beschaffen und die Gemeinschaft im Falle eines Angriffs zu schützen. Das Dorf war von dicht aneinander gereihten und fest in den Boden gerammten hohen Holzpfählen umgeben, sodass ein Feind bei einem Überfall oder Angriff zuerst einige Hürden überwinden musste. Zusätzlich war beim Haupttor Tag und Nacht ein Wachposten aufgestellt.
Aviva war dankbar, dass fast Vollmond war und es trocken war. Bei Regen wären die Wege zwischen den Hütten und bis hin zu den Pfählen sonst schlammig gewesen. Leichtfüßig eilte sie durch das schlafende Dorf und steuerte geradewegs auf das geschlossene hölzerne Tor zu. Was soll ich dem Wachposten sagen? Nach den Regeln der Sippe durften Frauen und Kinder ohne Begleitung nachts nicht aus ihren Häusern. Aviva hatte sich schon des Öfteren unbemerkt nachts herausgeschlichen, aber daran wollte sie jetzt nicht denken.
Vorsichtig näherte sie sich den Hütten der Jäger. Auf keinen Fall wollte sie von einem von ihnen bemerkt werden, vor allem nicht von Rapo, dem Hauptjäger. Um zum Tor zu gelangen musste sie aber ausgerechnet an seiner Hütte vorbei.
Aviva verlangsamte ihre Schritte, als sie sah, dass Licht in seiner Stube brannte. Die Tür stand offen. Sie erblickte Rapo, der drinnen noch bekleidet mit seiner Jägermontur unbequem mit dem Kopf nach hinten auf einem Stuhl hing und seinen Rausch auszuschlafen schien. Heute hatte er ein Wildschwein erlegt und mit den anderen Jägern gefeiert. Bei seinem Anblick verkrampfte sich ihr Magen. Furchtbare Erinnerungen wollten hochkommen. Erinnerungen, die sie niemandem anvertrauen konnte.
Nicht, dass sie es damals nicht versucht hätte, aber Kala hatte danach bloß die Hände hochgeworfen, vor sich hin geschimpft und gemeint, sie würde fantasieren und lügen. Nie wieder wurde anschließend darüber gesprochen. Im Grunde wurde überhaupt nicht über ihre Familie gesprochen, so als läge ein Bann auf ihr.
Als sie mit ihren Geschwistern zu Kala gebracht worden war, war Rapo ein heranwachsender junger Mann gewesen. Schaudernd erinnerte Aviva sich an das lähmende Gefühl, das sie in Rapos Nähe empfunden hatte – so als wäre die Angst, die sie spürte, bis in ihre Knochen gedrungen. Überglücklich war sie, als er nach zwei Jahren unter dem gleichen Dach auszog. Er sollte zum Jägermeister, der für ihn wie ein Ziehvater war, in die Hütte ziehen, um von ihm zu lernen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen.
Da hörte sie wieder das Knurren. Und anschließend das Blöken. Sie vernahm nun deutlich, das beides von hinter den Pfählen zu ihr drang. Alle Gedanken an die Vergangenheit waren im Nu verschwunden. Neben dem Tor erkannte sie den Schattenriss des Wächters; er saß auf einem Baumstumpf, den Kopf an die Palisadenwand angelehnt und schnarchte. So schnell und leise sie konnte, lief Aviva an Rapos Hütte vorbei. Behutsam öffnete sie das große Tor und schlich hinaus.
Vor ihr lag nun der dunkle Wald. Sie kannte ihn gut, auch die Gefahren, die darin im Verborgenen lagen. Wie oft war sie schon in den Wald gelaufen, um sich vor Rapo zu verstecken. Einen Moment lang zögerte Aviva, doch sie wusste, dass sie unter einem Schutz stand. Einem besonderen Schutz, von dem niemand etwas wusste, nur sie allein. Und in ihrem Herzen erklang leise die liebevolle Stimme, die nur sie hören konnte: „Hab keine Angst, ich bin bei dir, Aviva!“
Aviva schob die Erinnerungen energisch beiseite und konzentrierte sich auf ihr Herz. Sie stand nun zwischen den ersten Bäumen des Waldes. Ihre Augen versuchten im Dunkel etwas zu erkennen.
Da! Um die 50 Schritte vor ihr vernahm sie einen Schatten, der sich bewegte. Schnell huschte sie hinter einen Baum, um nicht gesehen zu werden. Vorsichtig spähte sie hinter dem Stamm hervor. Was sie dann erblickte, hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Etwas Schwarzes auf vier Beinen schlich auf den Baum zu. Es hatte einen langen Schwanz und bewegte sich wie eine Katze. Nur war dieses Ding um einiges größer und kräftiger.
Aviva hatte noch nie von einem solchen Tier gehört, geschweige denn eines gesehen. Irgendwie verhielt es sich eigenartig. Es knurrte, hielt inne und schlug mit der rechten Vordertatze nach etwas. Wieder konnte man es blöken hören, es kam genau aus der Richtung, wo das Tier mit seinen scharfen Krallen hingeschlagen hatte.
Aviva stockte der Atem. Leise und vorsichtig duckte sie sich hinter die Bäume und schlich sich näher an das Tier heran. Dann sah sie es. Ein Lamm lag am Boden vor ihm, es zitterte. Avivas Herz raste. Was soll ich tun?
Die Riesenkatze musste etwas gewittert haben, denn sie schaute genau in ihre Richtung. Aviva war klar, dass dieses katzenartige Biest im Dunkeln besser sehen konnte als sie. Sie befahl sich, ruhig zu bleiben und nicht von der Stelle zu weichen. Deutlich spürte sie den bohrenden Blick des Raubtieres, und trotz der Entfernung erschien es ihr ganz nah. Dann wandte das Tier sich wieder dem verletzten Lamm zu. Vorsichtig nahm es das Lamm zwischen seine messerscharfen Zähne.
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