Als sie sich erhob, stand auch Leroy auf, um sich zu verabschieden. Er schaute sie ruhig an und sagte: „Ich muss das Schäfchen zuerst neu verbinden, dann bringe ich es zu euch zurück. Wenn es nicht schnell zu seiner Mutter kommt und Milch trinkt, wird es wahrscheinlich nicht überleben, es scheint sehr schwach zu sein. Geh nur, Aviva, ich komme später mit dem Lamm nach. Ich werde dich schon finden, aber lass das Mutterschaf noch nicht aus dem Stall!“
Seine Worte spendeten ihr Trost. Sie schauten sich für einen kurzen Moment schweigend an. Dann beugte sich Leroy zu Basko hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und trottete zu Aviva. Erfreut nickte sie Leroy zu. Dann drehte sie sich um und ging zurück Richtung Dorf, mit Basko an ihrer Seite.
Nun nahm Leroy dem Lamm den Verband ab und besah sich die Verletzung genauer. Diese Wunde kann nur von einem Raubtier stammen. Aviva musste also einiges mehr durchgestanden haben in der letzten Nacht, als das, was sie ihm erzählt hatte. Er schaute ihr nach und sah sie gerade mit Basko hinter den Büschen verschwinden.
Basko begleitete Aviva, bis das Dorf in Sichtweite kam. Dann drehte er sich, um zu seinem Herrn zurückzukehren. Dankbar für die Begleitung blieb Aviva einen Moment stehen. Ihre Gedanken waren noch bei Leroy. Ich würde den geheimnisvollen Hirten gern besser kennenlernen , dachte sie. Auf eine seltsame Weise fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Es gab ihr Mut, dass sie ihn heute noch wiedersehen würde, wenn er das Lamm zurückbrachte. Sie nahm sich vor, als Erstes zum Stall zu gehen und dafür zu sorgen, dass das Mutterschaf ihn nicht verließ, wie Leroy empfohlen hatte.
Gerade wollte sich Aviva in Richtung der Stallungen begeben, als sie Lendor, den Wächter, die Hütte ihrer Großmutter ansteuern sah. Sie musste also sofort zu ihr.
Als Aviva bei der Hütte ankam, war Lendor schon dort. Die Tür stand offen und Aviva hörte Kala mit dem Wächter diskutieren.
„Die Zeit ist gekommen, der Rat wird sie alle einlösen“, hörte Aviva den Wächter sagen.
„Ja, ich weiß, und ich werde mein Versprechen halten“, antwortete die Großmutter.
Aviva huschte schnell seitlich auf die Veranda, da sie annahm, dass Lendor jeden Moment durch die Tür nach draußen treten konnte. Tatsächlich verließ er kurz darauf das Haus und ging mit stolzen Schritten zum Rathaus, wo der Ratsälteste wohnte.
Aviva ahnte nichts Gutes. Wer wird eingelöst?, fragte sie sich. Was für ein Versprechen hatte die Großmutter gegeben? Leise betrat sie das Häuschen und sah Kala auf ihrem Bett sitzen. Als sie Aviva erblickte, stand sie auf. „Du musst zum Rathaus! Die Dorfverantwortlichen werden sich nachher alle dort treffen und beraten, was mit dir zu tun ist. Diesmal bist du zu weit gegangen.“
Während sie sprach, blickten ihre Augen gehetzt hin und her. Aviva wusste, dass es nichts bringen würde, sich zu verteidigen. Mit einem Kloß im Hals ging sie in ihr Zimmer und tat so, als würde sie aufräumen. Sie zog den Pfeil unter der Truhe hervor und band ihn an der Innenseite ihres Rockes an ihren Gürtel, sodass ihn niemand sehen konnte. Dann schaute sie kurz in den Spiegel an der Wand und nickte sich selbst zu. Die Enge im Hals löste sich. Wie letzte Nacht , dachte sie. Für einen Sekundenbruchteil fühlte sie sich sogar glücklich, als sie an die schwarze Raubkatze dachte. Dieses Erlebnis konnte ihr niemand nehmen, darauf war sie stolz. Mutig verließ sie das Zimmer.
Großmutter Kala wartete schon. Ohne miteinander zu reden, gingen sie zum Haus des Dorfältesten. Aviva war erleichtert, dass die anderen Dorfbewohner beschäftigt waren und ihnen keine Aufmerksamkeit schenkten. Als sie vor dem Haus ankamen, zögerte Kala und schaute Aviva für einen kurzen Augenblick mitleidig an. Aber dann sah sie wieder weg und klopfte an die schwere Tür. Augenblicklich wurde sie geöffnet und Aviva stockte der Atem, als sie Rapo vor sich sah. Als Jägermeister war er für die Sicherheit des Dorfes verantwortlich. Er nickte Kala zu und trat zur Seite, damit sie eintreten konnten.
Ein großer, ovaler Tisch stand in der Mitte des Raumes. Die Dorfältesten saßen daran auf Stühlen, die aus Baumstümpfen gezimmert waren. Narog, der Ratsälteste, saß etwas erhöht. Er hatte hier das Sagen und war ungefähr im gleichen Alter wie Kala. Er besaß dicke Augenbrauen und trug einen dichten, dunklen Bart. Nur um die Augen konnte man seine tiefen Falten erkennen. Wie die meisten Männer hier war er kräftig gebaut. Abwartend saß er da, mit einem Ausdruck in den dunklen Augen, der keine Widerrede duldete.
Rechts und links von ihm saßen je zwei weitere Ratsmitglieder. Sie wiesen die gleichen Merkmale auf wie alle Männer des Stammes: eine kräftige Nase, dichtes, dunkles Haar, bullige und stämmige Körper. Rapo setzte sich nun ebenfalls an den Tisch. Ein Stuhl war noch frei. Narog bedeutete Kala mit einer Handbewegung, sich zu setzen.
Aviva schaute zu Boden. Für einen kurzen Moment wurde es ganz still im Raum. Plötzlich wusste sie, dass sie keine Chance bekommen würde, sich zu erklären. Das Urteil war schon gefällt worden. Ihre Knie zitterten, doch Aviva befahl sich, keine Schwäche zu zeigen. Mit all ihrer Kraft schrie sie innerlich zu der Stimme, die in ihr wohnte: Hilf mir!
Die Tür des Nebenzimmers ging auf und Lendor, der Wächter, betrat den Raum. Er stellte sich neben Aviva. Narog ergriff mit ernster Stimme das Wort: „Aviva, es wurde uns zugetragen, dass du dich nachts aus dem Dorf schleichst. Du gefährdest unsere Sicherheit und mir scheint, dass du keinerlei Respekt vor unseren Regeln hast. Als Waise bist du hier sowieso nur geduldet und hast noch weniger als andere das Recht, dir etwas herauszunehmen. Weil du noch nicht heiratsreif bist, werden wir dich vorerst bei uns behalten. Es gibt genug junge Jäger, die darauf warten, dich gefügig zu machen.“ Dabei streifte sein Blick kurz Rapo, heftete sich aber gleich wieder auf Aviva.
Da erst hob sie ihre Augen und schaute Narog offen an. „Du hast das Sagen hier, Narog. Ich achte dich als gerechten und weisen Dorfführer. Tu mit mir, was dir gefällt, aber bitte lass mich dir erzählen, was du nicht weißt.“
Narog horchte auf und seine Augen weiteten sich. Er fühlte sich geschmeichelt und war zugleich belustigt. „Dann erzähle du mir, was ich nicht weiß, Aviva.“
Als sich die Augen der Ratsmitglieder auf sie richteten, warf sie einen schnellen Blick in die Runde und fragte sich, ob ihr jemand glauben würde. Bevor sie jedoch zu sprechen ansetzen konnte, meldete sich Lendor zu Wort. Er fuchtelte mit ausgestreckter Hand in ihre Richtung und rief: „Dieses Mädchen gefährdet unsere Sicherheit! Gestern Nacht habe ich sie dabei ertappt, wie sie sich aus dem Dorf schleichen wollte. Ich konnte sie gerade noch schnappen. Wer weiß, was sie vorhatte!“ Lendors Gesicht lief vor lauter Aufregung rot an.
„Vielleicht trifft sie sich heimlich mit jemandem von einem anderen Stamm?“, mischte sich Rapo ein. „Wie wir alle wissen, ist es nicht das erste Mal, dass Aviva sich nachts heimlich außerhalb der Palisaden herumtreibt!“, fügte Lendor noch hastig hinzu.
Aviva holte tief Luft und berichtete nun wahrheitsgetreu von den Ereignissen der letzten Nacht, angefangen beim Geheul des Wildtieres und dem lauten Blöken, das sie aus ihrem Schlaf gerissen hatte. „Ich wollte nicht ausreißen, sondern das Schaf retten. Es blieb mir keine Zeit, die Großmutter zu wecken. Ich habe gedacht, die Wache und die Jäger hätten das Geheul des Tieres ebenfalls gehört. Aber als ich bei Rapos Hütte vorbeikam, sah ich, dass er schlief und nicht ansprechbar war. Bei dem Tor war die Wache ebenfalls in Schlaf versunken. Ich möchte dem ehrenwerten Rat meine Bedenken vorbringen, dass die Sicherheit nicht gewährleistet ist, wenn unsere Wächter schlafen und der Jäger betrunken ist. Es ist außerdem dringend nötig, dass der Stall repariert wird.“
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