BETTINA SCHIMAK:
Es schaffen nicht viele, diesen Weg so zu gehen …
ERWIN KRÄUTLER:
Ich muss meinen Weg gehen. Du gehst deinen. Jeder muss seinen Weg gehen. Ich würde nie sagen: „Ich möchte den Weg einer anderen Person gehen.“ Ich muss versuchen, das zu tun, wovon ich überzeugt bin.
BETTINA SCHIMAK:
Was macht Ihnen dabei so viel Mut?
ERWIN KRÄUTLER:
Als ich von der Militärpolizei niedergeschlagen wurde, haben die Leute nicht geschrien: „Das ist ein Bischof!“ Nein, sie haben geschrien: „Das ist unser Bischof!“ Ich bin für dieses Volk da und dieses Volk ist umgekehrt für mich da. Als ich das erste Mal bedroht und unter Polizeischutz gestellt wurde, habe ich von meinem Volk so viele Liebeserklärungen bekommen wie nie zuvor in meinem Leben. In vielen Kirchen gab es an den Wänden Transparente, auf denen stand: „Wir lieben dich! Dein Leid ist unser Leid! Wir stehen auf deiner Seite!“ Ein anderes Beispiel: Eine Frau nahm mir am Ende eines Gottesdienstes das Mikrofon aus der Hand und verkündete, ich dürfte mit ihrer Liebe rechnen. Das ist das Wunderbare bei der Liebe: Man schenkt und wird beschenkt. Die Leute haben mir gezeigt, dass ich einer von ihnen bin. Das rührt mich beinahe zu Tränen. Da habe ich mir gedacht: Wenn es diese „Mafia“ gibt, die mich umbringen will – ich könnte es nie im Leben übers Herz bringen, diesen Menschen den Rücken zuzukehren. Es hält und stärkt mich, dass Kinder, Frauen und Männer mir immer wieder die Hand reichen und sagen: „Mach so weiter! Bitte! Wir sind bei dir, wir machen das miteinander!“ Ich opfere mich nicht für irgendjemanden auf. Es geht mir darum, mit den Menschen unterwegs zu sein, sie zu umarmen, zu halten und von ihnen gehalten zu werden.
BETTINA SCHIMAK:
Als Sie als junger Priester nach Brasilien gekommen sind, sind Sie als Missionar gekommen, haben vermutlich auf eine Art und Weise als Missionar gearbeitet – so, wie man das heute nicht mehr macht …
ERWIN KRÄUTLER:
Ja, natürlich. Ich bin 1965 nach Brasilien gekommen. Die Zeiten waren andere. Das Zweite Vatikanische Konzil5 war zwar schon vorbei, aber bis das Konzil zum Tragen gekommen ist, hat es einige Zeit gedauert. Dennoch war schon klar: Mission heißt Sendung. Die Kirche hat den Auftrag – so heißt es im Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche –, die Liebe Gottes allen Menschen und Völkern zu verkünden und mitzuteilen. Verkünden und mitteilen sind die zentralen Worte. Aber was verkünden wir den Menschen? Geben wir ihnen ein fest verschnürtes Glaubenspaket oder teilen wir den Menschen und Völkern die Liebe Gottes mit? Es geht nicht darum, den Leuten zu sagen, was sie zu tun haben. Sie sollen spüren, dass wir sie gernhaben, dass wir sie lieben. Liebe – gerade im Zusammenhang mit der indigenen Bevölkerung, den Ureinwohnern – bedeutet, dass wir uns einsetzen für ihr Leben und ihr Überleben. Die Indigenen wurden seit Jahrhunderten immer wieder bedroht. Ich denke, dass sich die Liebe Gottes diesen Völkern gegenüber so erweist, dass wir sie unterstützen, ihnen helfen, mit ihnen sind. Nicht nur für sie da sind, sondern mit ihnen sind, damit sie leben können. Das ist biblisch!
BETTINA SCHIMAK:
Sie sprechen so einfach von der Liebe Gottes. Das ist in unseren Breitengraden nicht mehr selbstverständlich. Wie haben Sie Gott lieben gelernt?
ERWIN KRÄUTLER:
Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der das religiöse Leben einfach dazugehört hat. Wir haben immer vom „lieben Gott“ gesprochen, der gleichzeitig Vater und Mutter für uns alle ist. Ich habe diese Beziehung heute noch. Ich habe in meinem Leben viel erlebt. Gutes und weniger Gutes. Aber im Grunde genommen habe ich auch das Kreuz akzeptieren können, weil ich daran geglaubt habe, dass jemand mit mir ist und ich nicht allein bin. Da möchte ich einhaken mit der Befreiungstheologie. Wenn man heute von Befreiungstheologen spricht, ist man der Meinung, das wären einige marxistisch angehauchte Theologen, Priester, vielleicht sogar Bischöfe. Befreiungstheologie hat für mich aber wenig mit Marxismus zu tun. Befreiungstheologie ist grundbiblisch. Im Exodus-Bericht sagt Gott seinem Volk: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen, ich habe seinen Schrei gehört, ich kenne sein Leid. Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der Sklavenhütte zu befreien.“ Als Moses dann fragte: „Wie ist dein Name?“, antwortete Gott: „Ich bin der ich bin da.“ Das ist die tiefe Gotteserfahrung. Gott ist nicht ein Gott in weiter Ferne, sondern er ist da, mit uns. Gott ist ein befreiender Gott. Wenn jemand sagt, er sei gegen die Befreiungstheologie, ist er gegen die Bibel, gegen die Offenbarung Gottes.
Wenn ich gefragt werde, was mir Kraft und Mut gibt, ist es diese Überzeugung: Ich bin nicht allein auf dieser Welt und ich erfülle meinen Auftrag, weil Gott das von mir so will und mir auch die Kraft und den Mut dazu schenkt.
BETTINA SCHIMAK:
Wieso schenkt Gott auf der einen Seite so viel Mut und Kraft und lässt auf der anderen Seite so viel zu?
ERWIN KRÄUTLER:
Auf bestimmte Fragen gibt es keine Antwort. Kürzlich ist eine liebe Verwandte von mir mit 43 Jahren an Krebs gestorben. Meine erste Frage war auch: Warum? Gerade wenn eine junge Person stirbt, habe ich keine Antwort. Ich weine und bin traurig. Vielleicht hadere ich sogar mit dem Schicksal. Aber auch das ist keine Antwort. Wir leben in einer Welt, in der es nicht für alles prompt eine Antwort gibt. Ich glaube aber, es gibt Situationen im Leben, in denen ich trotzdem Ja sagen muss – auch wenn ich nicht weiß warum. Im Johannes-Evangelium heißt es im Kapitel 13: „Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zum Äußersten.“ Das ist das Wichtige: Bis zum Ende lieben heißt, bis zum Äußersten sich hingeben, bis zur letzten Konsequenz. Bei Johannes heißt es weiter: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns eingesetzt hat.“ Auch wir sind es schuldig, unser Leben für die Schwestern und Brüder einzusetzen.
BETTINA SCHIMAK:
Das wird sehr oft so leicht dahingesagt. Sie sagen das nicht so leicht dahin …
ERWIN KRÄUTLER:
Nein, wirklich nicht. Es ist nicht immer leicht. Aber es ist der Weg, den wir gehen sollen. Und ich bin trotz allem glücklich! Ich habe nie daran gezweifelt, dass das der Weg ist. Keinen einzigen Augenblick in meinem Leben. Ich habe zwar auch gefragt: „Warum musste das jetzt so kommen?“ Aber am Grundsätzlichen habe ich nie gezweifelt. Das Glück eines Menschen besteht auch darin, einen Weg gehen zu dürfen und nicht aufzugeben. Ich möchte für andere da sein. Für mich da zu sein, macht nicht Sinn. Für andere da zu sein, macht Sinn. Und wir suchen nach Sinn. Wenn unser Leben keinen Sinn mehr hat, ist es gefährlich.
BETTINA SCHIMAK:
Gibt es auch dunkle Momente?
ERWIN KRÄUTLER:
Es gibt dunkle Momente. Dann hinterfrage ich: „Warum ist das so gekommen?“ Das gehört zum menschlichen Leben dazu. Auch wenn ich spüre, dass ich an meine Grenzen gekommen bin, sind das dunkle Momente. Als der Polizeikommandant zu mir gekommen ist und gesagt hat: „Sie stehen jetzt unter Polizeischutz“, habe ich mich gewehrt. Ich habe genau gewusst, das geht jetzt an meine Substanz. Ich werde in meiner Freiheit eingeengt. Ich darf nicht mehr gehen, wohin ich will, wann ich will, mit wem ich will. Immer sind zumindest zwei Polizisten dabei. In dem Moment wollte ich das Handtuch werfen. Aber auf einmal konnte ich sagen: „So, das gehört jetzt einfach dazu.“ Ich hatte Angst, in Depression zu verfallen. Ich war gewohnt, jeden Morgen um Viertel vor fünf meine fünf Kilometer zu laufen. Das durfte ich jetzt nicht mehr, weil die Gefahr zu groß war, dass ich beschossen werde. Jetzt bleibt mir nur die Alternative, in dem Haus, in dem ich lebe, 65 Schritte nach vor und 65 Schritte zurück zu machen. Ja, es gibt diese Momente, in denen man richtig am Boden ist. Aber es ist nicht so, dass ich aufgeben würde und sagen würde: „So, mein Auftrag ist jetzt vorbei.“
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