Nachdem Edward House gesprochen hat, ist es Brandeis ein Bedürfnis, die schon vor vielen Wochen vom Präsidenten genannte Idee eines Bundes der Völker und Nationen zu durchleuchten. Schließlich sind Amerikas Verbündete in diesem Krieg die größten Kolonialmächte der Erde. Sie werden es nicht hinnehmen, die Verfügungsgewalt über ihre ausgreifenden Territorien internationaler Kontrolle zu unterwerfen. Etwas anderes wäre es natürlich, falls es Woody gelänge, einen Völkerbund durchzusetzen, der den Krieg ächtete und die Großmächte dazu brächte, auf Krieg zu verzichten - oder zumindest so lange, bis ein internationales Schiedsgericht zu Konflikten zwischen den Staaten einen Vermittlungsvorschlag unterbreitet hätte. Als der oberste Bundesrichter Louis Brandeis voller Eifer seine Überlegungen über völkerrechtliche Ambitionen zum Besten gibt, ist der Präsident wie gefangen. Edward House spürt gleich wieder dieses enorme Herzblut, dass Woodrow Wilson in sein Konzept vom Bund der Nationen hineinlegt. So kommt es, dass die drei Herren in eine tief schürfende Betrachtung jenes Bundes eintreten, Edward House und selbst der Präsident sich dabei die eine oder andere Randbemerkung notieren und die zuweilen hitzige Diskussion selbst vom Lunch, den die Küche des Weißen Hauses in einem benachbarten Salon serviert, nicht unterbrochen, geschweige denn abgewürgt wird.
Recht beiläufig, während die Vorspeise serviert wird, erwähnt Louis Brandeis eine bemerkenswerte Begebenheit während seines Weihnachtsaufenthaltes bei Verwandten in New York. Der britische Generalkonsul in New York, Lord Melroy, habe berichtet, vor Weihnachten von Graf von Bernstorff besucht worden zu sein. Edward House merkt auf, denn er weiß: Bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Deutschen Reich am 3. Februar 1917 war Bernstorff Botschafter in Washington. Dann wurde er selbstverständlich ins Reich zurückgerufen. Was ist der Grund für seine Amerikareise gewesen? Danach fragt er sogleich Brandeis.
„Nein, so richtig hat von Bernstorff die Katze nicht aus dem Sack gelassen. Allerdings versuchte er auch erst gar nicht den Anschein einer rein privaten Reise zu erwecken. Besuche bei alten Freunden, Kollegen anderer Botschaften und eben auch Geschäftspartnern aus New York nannte er als erstes. Dann aber sagte er sinngemäß Folgendes: Die militärische wie die zivile Reichsleitung habe zur Zeit ein gesteigertes Interesse daran, mehr über Amerikas Kriegsvorbereitungen für das Jahr 1918 zu erfahren. Und noch wichtiger sei es für manche Herren in Berlin zu wissen, ob der Präsident wohl wie 1916 oder 1917 noch vor dem Kriegseintritt wieder für eine Friedensoffensive gut sei.
„Ich hakte bei Melroy nach und fragte, welche Herren Bernstorff wohl gemeint habe. Der Generalkonsul schwieg zunächst. Das lag vielleicht daran, dass er meine Erwartung in der von ihm verursachten Stille genoss. Endlich bemerkte er ohne die geringste Intonation in seiner Stimme: Für die Regierung Seiner Majestät, des Königs von England und des Kaisers von Indien, ist es ebenso interessant wie für den Präsidenten der Vereinigten Staaten, wenn, oder besser dass es zumindest einige maßgebliche Herren in Berlin gibt, die nicht allein auf den Zusammenbruch der Russen spekulieren und anschließend alles auf eine große Offensive im Westen setzen. Mister Brandeis, stellen sie sich nur vor, die Deutschen verlegen im kommenden Jahr 70 Divisionen, mehr als eine Million Mann von Russland nach Frankreich und greifen uns dort an. Wer weiß, wie das ausgeht? Britannien wird durchaus kriegsmüde. Da könnte ich mir einen Verhandlungsfrieden besser vorstellen als noch 1916.
Ich reagierte erschüttert. Melroy hielt ich entgegen, wir hätten keine Aussicht auf einen fairen Frieden mit dem Reich, wenn der Kaiser und Hindenburg aus einer Position der Stärke in die Verhandlungen einstiegen. Doch der Generalkonsul wehrte mit einer laschen Handbewegung ab. Sie glauben gar nicht, welche realistischen Gedanken sich die weltoffenen Herren in Berlin über das amerikanische Militärpotenzial machen. Ich wette, da geht etwas!“
Oberst House kann seine Spannung nicht mehr verbergen. Er rutscht etwas unruhig in seinem Sessel hin und her, dabei knetet er die Hände zur Selbstberuhigung ineinander.
„Jetzt aber raus mit der Sprache, Louis. Wer ist es, der in Berlin für gut zu gebrauchen ist? Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass Ludendorff zu den Weltbürgern dort zählt oder der Kaiser persönlich Graf Bernstorff auf die Reise nach New York geschickt hätte.“
Woodrow Wilsons Gesichtsausdruck verrät, dass er ähnliche Überlegungen anstellt, doch der Präsident zügelt seine Ungeduld und dokumentiert staatsmännische Gelassenheit, indem er nichts weiter unternimmt, als Eddy House das Feld zu überlassen und Brandeis auffordernd anzublicken. Dem Blick hält Louis Brandeis gerade einmal zwei Sekunden stand.
„Es waren nicht Hindenburg und Ludendorff, aber auch nicht Graf Hertling oder Kühlmann, die Bernstorff gespickt haben mit Ideen zu einer amerikanischen Initiative. Es war überhaupt kein Mitglied der Regierung. Aber dennoch sprach er mit zwei bedeutenden Männern, mit zwei Spitzenvertretern der Wirtschaft, die wiederum über die Rückendeckung von zwei noch bedeutenderen Männern aus der Politik verfügten.“
„Sicher? Oder eher Gerüchte, Hoffnung, Legendenbildung?“
Edward House Einwurf erscheint Brandeis so despektierlich, dass er jeden Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Quelle ausräumen möchte.
„Nun, zu aller erst: Lord Melroy ist ein höchst vertrauenswürdiger Mensch. Auf ihn lasse ich nichts kommen.“
Oberst House wirft entwaffnet die Oberarme nach vorn und gibt sich gestikulierend geschlagen.
„Melroy hat die gleiche hohe Meinung von Bernstorff wie ich von Melroy.
Bernstorff nun beruft sich auf ein Kamingespräch in der Grunewalder Villa des Präsidenten der AEG, Herrn Doktor Walther Rathenau, an dem nur noch der berühmte Hamburger Reeder Albert Ballin teilnahm. Ich wiederum kenne Ballin von einer seiner ausgiebigen USA-Reisen. 1911 begegneten wir uns in Boston, hielten seitdem Briefkontakt und schätzen uns sehr. Ballin ist als Reeder natürlich ein Verfechter der offenen Meere, des freien Handels. Sein Freund Rathenau ist einer der mächtigsten Vertreter der deutschen Exportindustrie, deren Frontbranchen schließlich Chemie und Elektro sind.“
„Na ja, das gibt mir bisher nicht mehr als die Erkenntnis, dass diese Herren im Gegensatz zu den Junkern und Stahlbaronen mit ihren Kriegszielen unseren Vorstellungen sehr viel näher liegen dürften. Doch das besagt wenig über ihren Einfluss auf die Machthaber.“
„Du hast völlig recht, lieber Woody. Für die politische Dimension der Bernstorffschen Informationen ist Folgendes entscheidend: Rathenau und Ballin sind Berater von Stresemann und mehr als das, sie sind seine Freunde. Der Volkswirt Doktor Gustav Stresemann ist seit Juli Fraktionsvorsitzender der Nationalliberalen im Reichstag. Die wiederum sind die größte Regierungspartei und die politische Heimat aller auch nur irgendwie bedeutenden Industriellen des Reiches. Sie üben auf die Regierung einen größeren Einfluss aus als die Konservativen, das Sammelbecken der Junker.“
Oberst House fällt Brandeis ins Wort mit all seinen Zweifeln an der Berechenbarkeit der Machtverhältnisse in Deutschland.
„Ich habe aber gehört, die Militärs hörten viel lieber auf die Imperialisten von der Ruhr mit Stinnes und Hugenberg – auch Nationalliberale – als auf die Modernisierer von der Weltmarktfraktion in derselben Partei. Also heißt die Devise: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Stresemann ist nicht Reichskanzler und zusätzlich auch noch Vorsitzender einer innerlich hochgradig gespaltenen, vor der Zerreissprobe stehenden Industrieund Unternehmerpartei.“
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