Seine Gedanken schweiften ab, denn am 11. Februar hatte sein Vater Geburtstag, da wurde er sechzig Jahre alt. «Mein Gott!» Er zuckte bei seinem Ausruf unwillkürlich selbst zusammen: Als Kommunist brachte man Gott besser nicht ins Spiel. Er wusste, das waren Überbleibsel bürgerlichen Denkens. Es reichte schon, dass sein Vater Hermann hieß – obwohl man ja bei seiner Geburt im Jahre 1888 kaum an Hermann Göring gedacht haben konnte.
Ehe er sich auf den Weg in die Dircksenstraße machte, warf er noch schnell einen Blick auf die hinteren Seiten der Zeitung. Raparations-Saboteure. Er stutzte, ehe er bemerkte, dass es sich hier um einen Druckfehler handelte. In Nürnberg standen fünf Angestellte der Chillingworth-Werke vor einem amerikanischen Militärgericht, weil sie in einem geheimen Keller wertvolle Maschinen eingemauert hatten, um sie der Demontage zu entziehen. Schiebungen von Großformat – Rauschgiftschmuggel, weiße Sklaven und Schwarzmarkt auf Interzonenbasis. Ein alter Nazioffizier, Angehörige der US-Armee und die Tochter eines deutschen Großindustriellen hatten sich in Bayern zu einem Schmugglerring zusammengeschlossen. Die deutschen Behörden waren ihm auf die Schliche gekommen, als die tizianrote Königin der Unterwelt ermordet und verstümmelt aufgefunden worden war. Im Westen waren wieder einmal herrliche Zeiten angebrochen!
Hartmut Kappe beendete seine Zeitungslektüre und machte sich auf zum Dienstantritt. Seit Oktober 1946 war auch die Berliner Polizei in Sektoren aufgeteilt, und die Verfolgung von Straftaten war weithin dezentralisiert, obwohl in der Dircksenstraße noch immer eine zentrale Dienststelle der Kripo existierte. Doch die lag im sowjetischen Sektor, was die Westalliierten mit großem Misstrauen erfüllte, hatten es doch die Kommunisten von Anfang an verstanden, die Leitungsfunktionen der Kripo ausschließlich ihren Leuten zu übertragen. Davon hatte auch Hartmut Kappe profitiert, der in Stalingrad als Leutnant in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und nach dem Besuch einer Antifa-Schule zum Nationalkomitee Freies Deutschland gestoßen war. Paul Markgraf, den amtierenden Berliner Polizeipräsidenten, kannte er seit dieser Zeit persönlich, sehr gut sogar.
Man hatte Hartmut Kappe und seiner Frau eine Altbauwohnung in der Fruchtstraße zugewiesen, gleich an der Frankfurter Allee. Das hatte ihn sehr gefreut, denn in diesem Kiez hatte er gelebt, bei seinen Eltern noch, ehe er eingezogen worden war. Ein Stückchen weiter hin zum Alexanderplatz war das gewesen, in der Großen Frankfurter Straße, wo jetzt alles in Schutt und Asche lag.
Er hatte sich vorgenommen, zur Dircksenstraße zu laufen. Als er aber vor die Haustür getreten war, ging gerade ein kräftiger Schneeregenschauer nieder. Bei diesem Sauwetter nahm er doch lieber die U-Bahn. Er rannte zum Bahnhof Memeler Straße. Als er am Alexanderplatz ausstieg, wurde er von einem Kollegen angepflaumt.
«Na, Genosse Kappe, hart wie Kruppstahl scheinst du aber nicht zu sein, obwohl du vor Stalingrad gekämpft hast!» Es war Erich Mielke, der ihn da angesprochen hatte, der Leiter der Polizeiinspektion Lichtenberg.
Es entspann sich ein Gespräch über Mielkes Weigerung, ehemalige Polizeiangehörige wiedereinzustellen. «Ich will mir keine neuen Sozialdemokraten ins Haus holen, wir haben schon genug damit zu tun, die alten loszuwerden», erklärte er und warf Hartmut Kappe einen Blick zu, der einer Maßregelung gleichkam. «Dein Vater ist gerade in die SPD eingetreten, habe ich gehört?»
Hartmut Kappe senkte den Blick. «Ich habe in nächtelangen Gesprächen versucht, ihn davon abzubringen, aber vergeblich. Bitte lasten Sie es mir nicht an, dass er nun bei den Speichelleckern des Kapitalismus gelandet ist.»
Im Büro angekommen, wurde Hartmut Kappe schon von seinem engsten Mitarbeiter erwartet, dem Kriminalhauptwachtmeister Heinz Rösler, einem alten Spanienkämpfer, der ein wenig an Ernst Busch erinnerte, zumal wenn er sang: Wir sind die Moorsoldaten / Und ziehen mit dem Spaten ins Moor.
«Mord in Pankow», meldete Rösler, «Wolfshagener Straße. Die Hauswartsfrau hat einen gewissen Peter Rembowski tot im Keller aufgefunden.»
«Dann auf in den hohen Norden!»
Das alte Gennat’sche Mordauto gab es nicht mehr, aber wenigstens stand ihnen für ihre dienstlichen Zwecke ein betagter Mercedes zur Verfügung. Zwar mussten die beiden hinteren Türen mit einem Bindfaden verschlossen werden, aber immerhin. Die Trümmerwüste des Alexanderplatzes war schnell passiert, dann ging es die Prenzlauer Allee hinauf. Sie kamen über die Danziger Straße zur Schönhauser Allee und fuhren auf der Berliner Straße weiter nach Pankow. Die Wolfshagener Straße zog sich gleich hinter der Pfarrkirche Zu den vier Evangelisten, die auf dem Dorfanger in der Breite Straße hoch aufragte, in nordöstlicher Richtung durch ein Wohngebiet, das man als gutbürgerlich bezeichnen konnte. Die Kollegen vom örtlichen Revier, die schon alles abgesperrt und organisiert hatten, führten die beiden zum Fundort der Leiche.
Hartmut Kappe holte erste Informationen ein. Der Mann war ganz offensichtlich durch einen Schlag mit einem harten Gegenstand auf den Hinterkopf getötet worden.
«Wahrscheinlich hat der Täter einen Hammer oder die stumpfe Seite eines Beiles benutzt», erklärte ihm der Kriminaltechniker, ein alter Hase seiner Zunft und Akademiker.
«Ist der Fundort der Leiche auch der Tatort?», fragte Rösler so schematisch und ein wenig naiv, wie man es ihm im Schnellkurs für Berufsanfänger beigebracht hatte.
«Das ist doch ganz offensichtlich.» Der Kriminaltechniker gab sich keine Mühe, nicht überheblich zu wirken. Er roch jeden Kommunisten meilenweit gegen den Wind.
Hartmut Kappe hoffte, dass der Mann von sich aus die Koffer packte und in den Westen der Stadt zog. Mit solchen versnobten Menschen ließ sich der Sozialismus wirklich nicht aufbauen.
Sie machten sich daran, Auskünfte über den Ermordeten einzuholen. Das meiste erfuhren sie von der Hauswartsfrau, die ihn gefunden hatte.
«Ick bin nu mal von Natur aus neugierig», erklärte Frieda Kopisch. «War ja ’n schöner Mensch, der Rembowski, so groß gewachsen und schlank. Wenn ick jünger wäre, hätte mir der jefährlich werden können. Det war ’n Charmebolzen, wie a im Buche steht, und tanzen konnte er wie früha so ’n Gigolo.»
Am späten Nachmittag hatten Hartmut Kappe und Heinz Rösler eine ganze Menge an nützlichen Informationen auf ihren Notizblöcken stehen.
Peter Rembowski war am 14. April 1915 in Vierraden in der Uckermark auf die Welt gekommen und hatte in Schwedt den Beruf des Herrenausstatters erlernt. Er war in den letzten Kriegstagen als Unteroffizier in sowjetische Gefangenschaft geraten und hatte in den Lagern gut Russisch gelernt. 1940 hatte er geheiratet, seine Frau war aber 1942 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Kinder gab es keine. Er sollte über gute Kontakte zur sowjetischen Kolonie in Karlshorst verfügt und diese für Schiebergeschäfte genutzt haben. Das meiste Geld sollte er auf dem schwarzen Markt aber mit dem Tabak verdient haben, den ein Cousin in Vierraden von den staatlichen Kontingenten abzweigte.
«Damit wara natürlich fein raus und konnte sich die schönsten Frauen leisten, solche wie früha bei den Tiller-Girls», gab Frieda Kopisch noch zu Protokoll. «Die letzte, die er sich anjelacht hatte, die hieß Marianne.»
«Woher kam denn diese Marianne, und was war sie von Beruf?», fragte Rösler.
Die Portiersfrau tat etwas verschämt. «Ick hab da mal an’a Tür jelauscht. Schneiderin isse, und irjendwo in New Kölln hat se jewohnt.»
«New Kölln?»
«Na, Neukölln is doch amerikanischer Sektor.»
Hartmut Kappe konnte über solche Scherze nicht lachen. «Und irgendein Mann, der Rembowski besucht hat, ist Ihnen nicht aufgefallen?»
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