Marianne Migola stand am Küchenfenster, hauchte gegen die Eisblumen, welche die Scheiben von oben bis unten bedeckten, und benutzte ihre Fingernägel als Schaber, um sich ein kleines Guckloch zu schaffen, durch das sie auf den Hof hinuntersehen konnte. Sie wollte wissen, ob der Müll endlich abgeholt worden war. Nein, auch heute noch nicht, obwohl sich Unrat und Abfälle schon so hoch um die schweren eckigen Mülltonnen stapelten, dass diese kaum noch zu erkennen waren. Zwei Ratten suchten sogar jetzt am helllichten Tag in dem Haufen nach etwas Essbarem. Als ob die Berliner Essen wegwarfen!
Sie hatte Hunger. Wie sollte es auch anders sein! Seit sie nicht mehr als Trümmerfrau arbeitete, bekam sie schlechtere Lebensmittelkarten. Dafür hatte sie jetzt nicht mehr den ganzen Tag zu schuften und konnte morgens ausschlafen. Jetzt war es elf, und langsam musste sie frühstücken. Aber was? Im Küchenschrank lag nur der Rest eines Kommissbrotes, noch immer klitschig, aber wenigstens nicht verschimmelt. Davon konnte sie sich zwei Scheiben rösten. Als Belag hätte sie sich norwegischen Räucherlachs, Schwarzwälder Schinken, ungarische Salami und holländischen Käse gewünscht, doch was sie hatte, war lediglich ein letzter Zipfel Fleischwurst und ein Rezept, aus einer Zeitung ausgerissen:
Kartoffelwurstaufstrich
150 g gekochte, geriebene Kartoffeln, 1–2 Eßl. Milch, Salz, 1 Zwiebel,
25–50 g Wurst. Wurst sehr gut zerkleinern, ohne Fett rösten, feingeschnittene Zwiebel mitdünsten. Die Masse unter die gekochten Kartoffeln geben, Milch hinzufügen, abschmecken.
Sie murmelte «In der Not frisst der Teufel Fliegen» und machte sich ans Werk. Zum Glück funktionierte ihr Gasherd, während der Strom schon seit acht Uhr abgestellt war. Da sie ein paar gekochte Kartoffeln auf dem Fensterbrett liegen hatte, war ihr Brotauf strich schnell zubereitet, ebenso wie ihr Muckefuck. Nicht gerade zufrieden mit dem Leben, aber doch guter Dinge, saß sie dann am Küchentisch und frühstückte. Ihr Wohnzimmer war nicht geheizt, nur in der Küche, wo sie im Herd ab und an Feuer machte und wo auch ihre Nähmaschine stand, konnte sie sich längere Zeit aufhalten, ohne sich Frostbeulen an den Füßen zu holen. Natürlich nur, wenn sie zwei Hosen übereinander trug und über ihren dünnen Pullover noch ihren Rollkragenpullover streifte.
Gerade hatte sie die letzten Krümel mit der angefeuchteten Spitze ihres rechten Zeigefingers vom Teller in den Mund befördert, da klingelte es. Einmal lang, einmal kurz. Sie fuhr zusammen, denn so hatte Gerhard geklingelt, ihr Verlobter, bevor er an der Westfront gefallen war.
Marianne Migola sprang auf, lief auf den Korridor und sah durchs Guckloch. Draußen stand Edda Damaschke, die Freundin, mit der sie zusammen gelernt und bei einem Zwischenmeister am Hausvogteiplatz gearbeitet hatte. Sie zog die Kette ab und öffnete die Wohnungstür. «Herein, wenn’s keine Schneiderin ist!»
Edda lachte. «Ist es aber. Darf ich trotzdem?»
«Aber nur, wenn du wieder Bohnenkaffee im Rucksack hast …»
«Habe ich!», rief Edda. «Wer beim Richtigen die Beine breit macht, der hat alles.» Das war eine Anspielung darauf, dass sie regelmäßig mit John Drake ins Bett ging, einem US-Sergeanten aus Columbus, Ohio. Von vielen Menschen wurde sie deswegen mit scheelen Blicken angesehen, von manchen auch gehasst. Ihr war es egal, denn wie sagte ihre Mutter immer? Ist der gute Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Dass ihre Freundin Marianne so ehrpusselig war, konnte sie nicht recht verstehen. Bevor der nächste Krieg kam, musste man mitnehmen, was mitzunehmen war.
Marianne Migola holte ihre Kaffeemühle aus dem Schrank, schüttete die von Edda mitgebrachten Bohnen hinein und drehte geradezu andachtsvoll die Kurbel, bis das Mahlwerk alles zerkleinert hatte. Das Wasser kochte schon, und schnell war der Kaffee aufgebrüht. Marianne Migola geriet ins Schwärmen. «Schon allein der Geruch!»
Edda Damaschke staunte. «Bringt dir dein Süßer nie was mit nach Hause? Den hab ich doch auch schon auf dem schwarzen Markt gesehen.»
«Nee, der spart alles, der will sich ja selbständig machen.»
«Ach ja, die Männer!» Edda Damaschke stöhnte auf und begann dann zu singen:
Die Männer sind alle Verbrecher,
ihr Herz ist ein finsteres Loch,
hat tausend verschied’ne Gemächer,
aber lieb, aber lieb sind sie doch.
So wurde es ein schöner Vormittag. Als sie schon fast wieder am Gehen war, kam Edda Damaschke auf den eigentlichen Grund ihres Besuches zu sprechen. Sie hatte von ihrem GI ein großes Stück taubengrauen Stoff geschenkt bekommen. Sie holte es aus ihrem Rucksack. «Nadelstreifen-Gabardine, und daraus sollst du mir ein schickes Kostüm schneidern. Ich hab das alles verlernt und auch keine richtige Nähmaschine.»
«Ja, gern. Der Stoff reicht aber mindestens für zwei Kostüme.»
«Den Rest kannst du behalten.»
«Mensch, du! Danke!» Marianne Migola fiel der Freundin um den Hals.
Kaum war Edda Damaschke gegangen, holte Marianne Migola ihre Schnittmusterbögen aus der Schublade, rollte den Stoffballen auf dem Fußboden ab und markierte mit Schneiderkreide die einzelnen Teile des Kostüms, wie sie später auszuschneiden waren. Als sie sich sicher war, wie viel Stoff sie für das Kostüm brauchen würde, nahm sie eine Schere und trennte den Teil ab, von dem Edda Damaschke meinte, dass sie ihn behalten konnte. Schnell war der Stoff zusammengelegt und in ihrem Rucksack unterge bracht. Wenn sie den auf dem schwarzen Markt verscheuerte, hatte sie endlich wieder etwas Vernünftiges zu essen.
So machte sie sich auf den Weg zum Schlesischen Tor, wo sie den Stoff am besten gegen Butter, Wurst und Speck eintauschen konnte. Als sie unten auf der Fuldastraße stand, überlegte sie, ob sie mit der Straßenbahn bis zum Halleschen Tor fahren und dort in die U-Bahn umsteigen – oder das Geld sparen und laufen sollte. Sie schätzte, dass es knapp anderthalb Kilometer zu Fuß sein würden. Das schaffte sie in weniger als einer halben Stunde, zumal es bis jetzt noch kein richtiges Winterwetter gegeben hatte und die Bürgersteige eisfrei waren.
Ruinen gab es auf ihrer Route nicht viele. Die Martin-Luther-Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite war wie die Gebäude kurz vor der Ossastraße zerstört worden, aber im weiteren Verlauf fehlte nur noch ab und an ein Haus. Um den Bayerischen Platz herum, wo die Engländer und die Amerikaner mit ihren Flächenbombardements alles in Schutt und Asche gelegt hatten, sah es anders aus. Es war ein trüber Tag, und die Straßen waren ziemlich leer. Auf dem Weichselplatz spielten keine Kinder, und rechts davon lag tief und schmutzig der Neuköllner Schifffahrtskanal. Schwäne gab es keine, die waren wohl schon lange in der Pfanne gelandet. Sie ging über die Brücke und kam in die Lohmühlenstraße und damit vom Bezirk Neukölln, gelegen im amerikanischen Sektor, in den Bezirk Treptow, der zum sowjetischen Sektor gehörte. Doch niemand kontrollierte sie. Es war überhaupt menschenleer in dieser Gegend. Wenn jetzt jemand aus den Büschen kam und über sie herfiel … Sie ging unwillkürlich etwas schneller und atmete auf, als sie kurz vor der Kiefholzstraße eine Brücke erreichte, die hinüber zum Görlitzer Ufer führte. Damit war sie in Kreuzberg und wieder im amerikanischen Sektor. Irgendwie fühlte sie sich hier sicherer. Über die Görlitzer kam sie zur Cuvrystraße. Die wollte sie hochgehen bis zur Schlesischen Straße, um dann zum Schlesischen Tor zu gelangen. Schon kamen ihr die ersten Schieber entgegen.
Mittelpunkt des schwarzen Marktes am Schlesischen Tor war das Restaurant Hackepeter an der Schlesischen Straße, Ecke Cuvrystraße. Hierher kamen auch viele Bewohner des sowjetischen Sektors, vor allem aus Friedrichshain über die nahe Oberbaumbrücke. Da der Schwarzhandel verboten war und man immer Angst vor einer plötzlichen Razzia haben musste, hielt man seine Waren nicht wie auf einem gewöhnlichen Markt feil, sondern benahm sich wie ein ganz normaler Spaziergänger und sprach leise vor sich hin, was man anzubieten hatte.
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