1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 »Nein.«
»Vielleicht hat er ganz schlechte Zähne.«
»Nun reicht’s, Charlie.« Ich entwand mich verärgert ihrer Umklammerung. Das war ein Angriff auf meine wunderschöne Statue auf dem hohen Podest.
»Entschuldige. War nicht so gemeint«, beeilte sie sich zu sagen. Dabei zog sie einen Mundwinkel stark nach unten. »Wirklich nicht.«
Ich ahnte, dass Charlie alles nur für eine heftige Schwärmerei hielt, die sich bald wieder legen würde. Tief in meinem Inneren fühlte ich aber, dass dies hier nicht so sein würde. Wieder erfasste eine Welle des Schmerzes meinen Brustkorb. Ich wollte kein Spielverderber sein, aber auf einmal machte mir das alles hier keinen Spaß mehr. Starr wie eine Marionette sah ich geradeaus ins Leere.
»Es bringt ja sowieso nichts. Die Sache ist gegessen.« Resignierend atmete ich einmal kurz durch und zwang mich zu einem gequälten Lächeln. »Du wolltest doch noch shoppen. Vielleicht ist das jetzt genau das Richtige.« Wenn sie mit den Klamotten beschäftigt war, würde ich etwas Zeit haben, wieder in die Spur zu kommen. Ich litt sowieso lieber im Stillen.
»Möchtest du wirklich?«, fragte sie skeptisch.
»Ja, wirklich«, bestätigte ich müde.
»Na gut.« Noch nicht recht überzeugt, sah sie mich von der Seite an und ich versuchte, meine Gesichtsmuskeln zu lockern.
Je weiter wir die Station hinter uns ließen, desto mehr kam mir die Erkenntnis, dass ich nur eine Chance hatte, das Ganze seelisch zu überleben, nämlich indem ich dieses unerfüllte, schmerzliche Gefühl nach tief unten in mein Gedankenarchiv verbannte. Weiter darüber nachzudenken, hätte mich an den Rand des Wahnsinns gebracht.
Charlie fand sehr schnell ein Objekt ihrer Begierde. Es war ein edles, kleines Designerkaufhaus und weckte augenblicklich ihr Jagdfieber. Sie hüpfte begeistert durch die Gänge und musterte verzückt die neuen Kollektionen, während ich verdrossen hinterherschlurfte. Als sie begann, die ersten Teile über ihren Arm zu laden, wusste ich, dass es ratsam war, mir eine bequeme Sitzgelegenheit zu suchen. Mir selbst war nicht danach, etwas anzuprobieren. Es war sowieso nicht meine Preisklasse. Während sie mit einer Auswahl von skurrilen Teilen in der Umkleidekabine verschwand, sank ich in einen kantigen, dunkelgrauen Ledersessel neben einer der schwarz gestrichenen, antiken Eisensäulen, die eine Deckenkonstruktion aus naturbraunen Holzbalken stützten. Vor mich hinträumend, verlor sich mein Blick in den an den Dachbalken baumelnden ungewöhnlichen Lampen aus verwobenen, breiten Plastikbändern. Wer bist du, wo bist du?
Charlie riss mich alle paar Minuten aus den Gedanken, wenn sie, meine Meinung einfordernd, wie ein Model über die Hüften streichend, an mir vorbeistakste. Ich bestätigte, dass viele der vorgeführten Minikleider aus kreischend bunten Stoffen mit kunstvoll eingefügten Blicköffnungen sehr gut an ihr aussahen, gab aber zu bedenken, dass sie durchaus in der Lage waren, in unserer eher konservativen Region einen Auffahrunfall zu verursachen. Bei einigen mit abstrakten Mustern und Formen bedruckten, schwindelerregenden Teilen zeigte ich jedoch ganz offen meine Ablehnung.
Denkst du auch gerade an mich?
»Hey!« Das Fashion Victim war in ein weiteres ein Verkehrschaos verursachendes Kleid geschlüpft und holte mich mit energischem Weckruf abrupt in die Realität zurück. »Was sagst du zu dem hier?«
»Gleicher Kommentar«, sagte ich schulterzuckend. »Es steht dir super, gar keine Frage. Vielleicht etwas schrill, aber für London passt es vielleicht.« Es war mir so egal in diesem Moment.
»Ja, ist wahrscheinlich nur was für London«, murmelte sie.
Die nächsten Teile waren noch furchtbarer. Ich sagte es ihr nun doch nachdrücklich, weil ich es als meine Pflicht ansah, sie vor üblen Geschmacksverirrungen zu retten, denn der Hang zu schrägen Klamotten war das einzige Erbgut ihrer Mutter, das leider hin und wieder mal gnadenlos durchschlug. Trotzdem entstand vor der Kabine ein kleiner Stapel. Wie meistens, würde sie einen Teil der Anschaffungen später bereuen.
Ich bediente mich am Wasserspender neben mir und blätterte in einem Interieur-Magazin, ohne etwas davon aufzunehmen. Ohne zu zögern, hätte ich mit der nächsten Bahn hinterherfahren sollen. Vielleicht ist er ausgestiegen und hat gewartet, sagte ich mir und fühlte mich dabei noch deprimierter. Ich würde es nie erfahren. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb musste es mir gelingen, sein Bild abzuschütteln.
»Los, Val, du musst unbedingt auch noch etwas finden«, versuchte Charlie mich zu animieren, was eher den Verdacht in mir schürte, sie wollte mich von den Kabinen weglocken, um einige der grenzwertigen Teile an mir vorbei zur Kasse zu schmuggeln.
Ich wälzte mich aus dem tiefen Sitz. »Ich kann ja noch mal gucken«, meinte ich und warf den Pappbecher in einen schwarzlackierten keilförmigen Abfalleimer. Aus dem Augenwinkel sah ich Charlie mit einem Arm voller Klamotten zur Kasse hechten.
Zwei Tüten schwenkend, kam sie mir kurz darauf entgegen. »Jetzt brauche ich einen Kaffee. Aber Lunch fällt aus. Die Kleider saßen ganz schön eng.«
»Gute Idee«, murmelte ich.
»Was? Dass ich auf den Lunch verzichte?« Ihre Augen funkelten lauernd.
»Nein. Ich meine den Kaffee.«
Das von Charlie ausgewählte Café erinnerte mich ein wenig an die Brasserie, die ich immer mit Dad besucht hatte, wenn ich bei ihm in Paris war. An den mit Stuck verzierten Decken hingen große, antike Lampen aus marmoriertem Glas, die ein warmes Licht auf die mit dunkelrotem Lederimitat bezogenen Sitzbänke abstrahlten. Die Rückenlehnen aller Sitzelemente waren zu den Durchgängen hin mit glänzenden Messingstangen verziert. Riesige Spiegel an der Rückwand des mit Säulen verzierten Tresens und auf den viereckigen Stützpfeilern im Raum ließen das Lokal doppelt so groß erscheinen, als es war. Überall standen große, bauchige Vasen mit langen Gladiolen in allen Farben. Um zu dem letzten freien, winzigen Tisch am Fenster zu gelangen, mussten wir über zahlreiche Füße steigen. Ich bestellte Kaffee und Wasser, während Charlie die Beute in den Einkaufstüten einer kritischen Nachkontrolle unterzog. Von stylish bis gruselig war alles dabei.
»Val, du musst mich auch mal bremsen«, maulte sie mit einem reuigen Blick auf ein besonders übles Exemplar.
Aha. Ich schmunzelte gequält. Das ging schneller, als ich dachte. Aber dass ich dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, ging zu weit. »Entschuldige mal«, tat ich entrüstet, »das da«, und ich zeigte mit spitzem Finger auf das Ungetüm, »hast du mir ja nicht mal vorgeführt.«
»Weil ich schon wusste, was du sagen würdest«, schmollte sie.
»Eben. Und über das hier«, ich zeigte auf eine schwarz-weiße Augenbeleidigung ersten Ranges, »hatte ich dir deutlich meine ehrliche Meinung gesagt.«
»Ich wollte es unbedingt. Es ist einmalig«, verteidigte sie das Shirt und betrachtete es von allen Seiten, als würde der Fetzen dann schöner werden.
Zwei wie Banker aussehende Männer am Nachbartisch, die sich neugierig umgedreht hatten, wandten sich nun mit blinzelnden Augen ab, als wären sie geblendet worden.
»Schade um das Geld«, grummelte Charlie und ich nickte beipflichtend. Dann mussten wir beide schallend lachen. Es war sehr befreiend. Der Klammergriff um mein Herz lockerte sich etwas. Während sie glucksend die Teile wieder zusammenfaltete und in den Tüten verstaute, empfand ich ein wärmendes Gefühl, den wundervollen Trost ihrer Freundschaft.
»Wir sollten noch mal im Dezember herkommen, wenn die Weihnachtsbeleuchtung angebracht ist. Das soll unheimlich toll sein«, meinte Charlie nun mit einem spitzbübischen Lächeln.
Ich zögerte mit der Antwort. Nichts wäre mir lieber gewesen, da mir der Gedanke an unsere Abreise Magenschmerzen verursachte. Aber ich würde das Geld dafür nicht haben. »Ja«, seufzte ich, »ist sicher romantisch. Wolltest du das nicht mit Tobey machen?«
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