Die Hütte stand offen, konnte von jedem benutzt werden, wie so häufig bei Hütten in der kanadischen Wildnis. Innen sehr verdreckt und verwahrlost zogen sie es vor in ihren Zelten zu übernachten.
Das Wetter schlug endgültig um, es wurde sonnig und warm und oh Wunder, die Moskitos waren bis auf wenige verschwunden. Das sollte auch bis zum Ende der Tour so bleiben. Der Fluss wurde sehr breit, floss zwar immer noch sehr schnell dahin, so erreichten sie bereits am frühen Nachmittag den Eingang zum Nationalpark.
Hier war ein richtiger Steg mit Ausstieg für Kanuten angelegt. Marc paddelte mit kräftigen Schlägen vorneweg, diesmal dicht gefolgt von seinen Freunden. Auf dem Steg stand eine Person. Marc winkte und rief laut in die Richtung. Die Person winkte zurück, der Stimme nach zu urteilen eine Frau. Marc stoppte abrupt mit seinen Paddelschlägen und rief ein zweites Mal.
Täuschte er sich, oder stand dort tatsächlich Shonessi? Allein der Gedanke an sie verlieh ihm zusätzliche Kräfte. Tief tauchte er das Paddel in das Wasser ein. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Wucht trieb er das Boot nach vorne. Er nahm so mächtig an Fahrt auf, dass seine beiden Freunde schnell zurückfielen. Immer näher kam er dem Steg, er rief ihren Namen. Deutlich erkannte er die Silhouette einer Frau mit langen Haaren. Sein Herz fing an laut zu pochen.
Er merkte, wie Bewegung in die Frau kam, sie rief ihm zu. Er konnte seinen Namen hören. Den Namen, den sie ihm gegeben hatte: „Lakota, Lakootaaa! Hier, hierher.“
Wenige Minuten später legte er an, war in Windeseile aus seinem Kajak heraus. Sie flog ihm geradezu in die Arme. Er küsste und herzte sie dermaßen, dass ein Außenstehender meinen konnte, hier hätten sich zwei Menschen ein Jahr lang nicht gesehen. Aus dem Sturm wurde die Ruhe, mündete in einen leidenschaftlichen Kuss.
Als sie endlich voneinander ließen, war es Marc, der zuerst das Wort ergriff.
„Shonessi? Du hier? Ich dachte, ihr wolltet nach Yellowknife?“
„Wollten wir auch, aber kurz vor Fort Liard haben sie uns dann aufgelauert. Wir konnten gerade noch entkommen. Ahmik hat einen Freund hier im Nationalpark.“
„Das war Schicksal, hilfst du mir beim Ausladen?“
Sie lachte ihn an, „ich habe so gehofft, dass du kommst. Ich wusste ja, dass ihr auf dem Fluss seid. Nur unser Freund sagte, dass der Fluss wegen Hochwasser gesperrt ist. … Egal, du bist da. Ich bin mir auch sicher, das sollte so sein.“
Sie schauten sich beide verliebt an. Hartmut und Gerhard hatten derweil ebenfalls angelegt. Shonessi lief mit der ersten Gepäckladung sofort los, nachdem sie seine beiden Freunde kurz begrüßt hatte. Hartmut starrte ihr nur hinterher, Marc beobachtete ihn dabei genau. Er musste an die letzten Gespräche mit ihm denken.
„Hartmut, was ist los? Willst du mir was sagen?“
Mit nicht nachvollziehbarem Gesichtsausdruck schleuderte er Marc eine Antwort entgegen, die ihn sprachlos machte.
„Kannst mich ja auch mal ran lassen, die macht mich richtig an!“
Gerhard mischte sich sofort ein.
„Hartmut, was soll das? Spinnst du? Sie ist die Freundin von Marc. Du bist sein Freund, vergiss das bitte nicht.“
Verächtlich lachte Hartmut, „Freundin? Nach einem Tag, das ich nicht lache. Die schmeißt sich doch an jeden ran und macht die Beine breit.“
Empört reagierte Gerhard: „Was redest du da? Woher willst du das denn wissen, du hast bisher kein Wort mit ihr gesprochen.“
„Hast du ihren Auftritt in Watson Lake vergessen, ich nicht!“
Marc konnte der Unterhaltung nur sprachlos folgen. Bis zu diesem Punkt. Er packte Hartmut am Kragen, seine Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an.
„Dann pass mal auf, mein Freund! Solltest du Shonessi auch nur ein bisschen zu nahe kommen, bekommst du Ärger. Verstanden?“
Hartmut blieb bei seiner Linie, er fasste Marc am Arm.
„Marc, wach auf! Das ist nur 'ne kleine Nutte, und genauso solltest du sie auch behandeln. Sie will nur an dein Geld …“
Marc stieß Hartmut zurück.
„Du hast ihre Küsse nicht gespürt und ihre Blicke nicht gesehen. Wie kannst du so etwas behaupten. Lass mich bloß in Ruhe mit deinem dummen Gerede. Ich habe es satt, bis hier!“
Er machte dabei eine Handbewegung zur Unterstützung dieser Aussage. Er drehte sich um und stand Shonessi gegenüber, sie hatte zwar alles mitbekommen, verstand jedoch kein Deutsch. An der Heftigkeit und den Reaktionen konnte sie sich aber einiges zusammenreimen, wollte es dennoch genau wissen.
„Was hat er über mich gesagt?“
Marc nahm kein Blatt vor den Mund, er war stinksauer.
„Mein sogenannter Freund möchte dich gerne flachlegen und meint, dass du jeden ranlässt. Außerdem bist du nur auf mein Geld aus.“
„Hast du denn welches, ist ja interessant. Warum erfahre ich das erst jetzt? Dann hätte ich ganz anders reagieren können.“
Sie wartete die Antwort von Marc nicht ab, sondern ging direkt auf Hartmut zu. Ihr sonst fast immer vorhandenes Lachen war verschwunden.
„Ich weiß, dass Marc nicht alles gesagt hat. Und merk dir das eine. Du wirst mich niemals bekommen. Um nichts in der Welt, nicht in diesem Leben. Kapiert?!“, wandte sich wieder Marc zu und flüsterte ihm mit vorgehaltener Hand ins Ohr. Sein Gesicht nahm dabei eine leicht rötliche Färbung an.
Shonessi nahm Marc an die Hand und ging mit ihm den Weg hoch zum Hauptquartier des Parks, einem modernen Holzhaus mit kanadischer Flagge. Gerhard und Hartmut folgten, nachdem sie ihr Boot entladen und auf festem Boden abgelegt hatten.
Im Raum befand sich ein Tresen, davor stand Ahmik, vertieft in ein Gespräch mit dem Parkaufseher. Als Shonessi und Marc den Raum betraten und Ahmik ihn erblickte, wurde er blass, in gereiztem Ton stellte er die Frage an Marc.
„Wie kommst du hierher?“
Marc hörte sehr wohl den Unterton in seiner Stimme und erwiderte deswegen auch etwas provozierend, „das ist doch nicht so schwer zu erraten: mit dem Kajak. Aber das wolltest du wahrscheinlich nicht wissen. Shonessi und mich hat das Schicksal zusammengeführt.“
Zur Unterstützung seiner Worte legte er seinen Arm um Shonessi, die ihn verliebt anblickte. Ahmik wollte schon ansetzen, als der Parkaufseher das Wort ergriff.
„Wie bist du hierhergekommen? Habe ich das richtig verstanden, mit dem Kajak?“
In diesem Augenblick betraten auch Gerhard und Hartmut den Raum. Überrascht bemerkte er, „oh, nochmal zwei. Gehört ihr zusammen?“
Hartmut deutete dabei auf Shonessi. „Sie nicht, wir drei ja.“
Marc übernahm mit einem Kopfschütteln das Gespräch, drängte Hartmut auf die Seite, zumal er das wesentlich bessere Englisch sprach.
„Wir drei“, er deutete dabei auf Hartmut, Gerhard und sich, „sind mit dem Kajak hier gerade eingetroffen. Shonessi habe ich in …“
Der Parkaufseher bekam große Augen: „Mit dem Kajak? Seid ihr verrückt? Wie seid ihr durch die Waldschlucht gekommen? Die ist jetzt lebensgefährlich und für Kanus gesperrt.“
Marc schilderte kurz ihre Fahrt durch die Waldschlucht, in Shonessis Augen konnten Gerhard und Hartmut Bewunderung erkennen. Der Parkaufseher verließ seinen Tresen und schüttelte allen die Hände.
„Wie ist dein Name? Ihr habt es drauf. Super!“, wandte sich direkt an Marc, „du scheinst Shonessi ja gut zu kennen?“
„Nenn mich Marc, und das sind Gerhard und Hartmut. Ja, Shonessi und ich haben uns in Jade City kennengelernt.“
Shonessi lachte, „ich habe ihm einen neuen Namen gegeben – Lakota!“
Der Parkaufseher fasste Marc an die Schulter und meinte anerkennend, „das ist eine große Ehre für einen …, woher kommst du?“
„Deutschland.“
„Na, dann, willkommen in meinem Park. Und wie gesagt, das ist eine sehr große Ehre. Wann wollt ihr weiter?“
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