Gerti Gabelt
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
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Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
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Titelfoto Elephant fight © 2630ben
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Dieses Buch widme ich allen, die sich ihre Neugier auf das Leben bewahrt haben. Vor allem denen, die ein Alter erreicht haben, in dem sie um die Endlichkeit des Lebens wissen, wenn der Weg wichtiger geworden ist als das Ziel, wenn Liebe eine neue Intensität erleben lässt.
Für meine Kinder,
für meine Enkelkinder
Anna, Lara Tabea, Eva und Lenni
Danken möchte ich Iris Bleeck für ihre hilfreichen Anmerkungen, Günter, für seine Geduld.
Ungeachtet dessen, ob ich glücklich oder traurig bin, habe ich gelernt, mich in beiden Situationen lebendig zu fühlen.
Ich habe mein inneres Glück gefunden Sergio Bambaren
Eine neue Erkenntnis gesellt sich zu vielen anderen Erfahrungen und wird zur Realität. Die Attribute des Älterwerdens zeichnen ihre unverkennbare Form und Farbe auf die Leinwand Körper, formen eine Collage daraus und lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Unebenheiten und Farbenflecke, die früher nicht da waren, werden sichtbar. An Oberarmen und Händen besonders auffallend. Nun muss ich lernen, mit dem Entdeckten umzugehen, es als Teil meines Selbst betrachten und selbstbewusst annehmen. Es kommt nicht urplötzlich, nein. Aber heute, in der Dusche, tangierte es mir besonders oder besser gesagt, es ist mir deutlich bewusst geworden. Da wünschte ich mich ehrlich, dass der Spiegel doch, wie so oft, beschlagen wäre.
Wie sagte meine Mutter, ‚wenn die Haut nicht mehr so jugendlich rosig ist, brauche sie einen feinen Fummel’.
Damals, als Kind, habe ich nur halb hingehört. Meine Mutter war schon älter, Anfang Vierzig, als ich geboren wurde. Sie war einfach schön, wie sie war. Sie hat sich für mich, während meiner Kindheit, nie sonderlich verändert, vielleicht, weil sie ihre Oberarme immer bedeckt hatte, eben unter einem feinen Fummel versteckt.
Aber nicht nur die Haut zeigt die Uhr des ‚Fortschritts’. Auch die Sehfähigkeit hat sich verändert – aber nicht bei mir – sagt so mancher Mann. „Dafür hört sie aber schlechter“ – meldet er nach kurzer Pause und gibt ein Geheimnis seiner Frau preis.
Kann Frau oder Mann trotzt dieser und zusätzlicher Zimperleins noch begehrenswert sein? Älterwerden ist nicht einfach, kann aber in gegenseitiger Liebe wunderschön sein. Und das Alter hat einen eigenen Bonus, den muss man nur herausfinden.
Wanda und Wendelin
Wanda und Wendelin gehören dazu. Sie bilden mit den Anderen eine Gruppe. Aber eigentlich fallen sie ständig auf, so dass sie doch nicht dazu gehören. Sie fallen durch das Raster, sie sprengen die Gesetze.
In Wanda erzeugt es ein heimliches Lächeln, nicht zu „gehorchen“, nicht angepasst zu sein.
‚Ich bin anders. Mich könnt ihr nicht zähmen. Auch wenn ihr denkt, die Alte ist sonderlich, vielleicht schon leicht dement? Glaubt es nur. Aber wundert euch nicht, wenn ihr eines Tages feststellen müsst, dass ihr es seid, die sich fragen müssen, wer war denn nun wunderlich, wer war im Irrtum? Diese Dame – ja ihr hört ganz recht – ich bin eine nicht mehr ganz junge Dame, fordert euch heraus. Zumindest eure Anerkennung, vielleicht auch eure Bewunderung. Dieses liegt wiederum an eurer geistigen Beweglichkeit. Es liegt an eurer Intelligenz, euch diesem Reichtum an Einfällen und Spiritualität zu öffnen. Aber es geht noch ein Stück weiter. Ihr werdet sehen. Na, das alles überlasse ich euch.’
Ein bekannter Psychologe schrieb, hütet euch vor den Normalen! Sorgt euch also nicht um mich, ich bin anders.
Natürlich erfordert das Leben in einer Gemeinschaft eine bestimmte Strategie, ein strukturelles Vorgehen, um ein harmonisches – wie die Direktorin meint – Miteinander zu gewährleisten. Da bleibt für das Individuum in seinem Handeln und Sein wenig Raum. Die Grenzen sind gesteckt. Kommen und Gehen, Schlafen und Wachsein, Essen und Schlafen, alles bewegt sich innerhalb dieser vorgegebenen Grenzen.
Die Menschen würden hier in einer langweiligen Eintönigkeit zur Passivität verdammt sein, wenn es nicht einzelne Bewohner gäbe, die aus dem Rahmen fallen – wer hat sie eigentlich in den Rahmen gestellt? – und somit die Lebendigkeit in der Enge des Tagesablaufs noch wahrnehmen.
Wanda hat sich Spiritualität bewahrt. Mit wachem Geist gestaltet sie ihren Alltag und so sagt sie sich:
‚Sicher gebe ich häufig Anlass zur Kuriosität. Und ich lebe von dem Echo meiner Kuriosität. Meine Heiterkeit beflügelt mich zu immer neuen Taten. Das heißt nicht, dass ich auch die Gegenseite dieser Tugend, nämlich Aggressivität kenne und lebe. Früher war es für meine Umgebung direkt anstrengend – nur früher? – meine Unausgeglichenheit zu ertragen. Aber wir alle leben in der Polarität. Eine interessante Frau ist keine langweilige Frau. Und für einen Mann ist es gut, nie ganz sicher zu sein, was wohl als nächstes geschehen mag. Ein kleines Geheimnis gehört zur Diplomatie der Frau und hält überdies die Spannung in der Partnerschaft.’
Wanda war über dreißig Jahre verheiratet gewesen, genau 35 Jahre und 9 Monate. Dann starb Jacob. In ihrer Ehe war es im Anfang ganz schön turbulent zugegangen. Bis jeder von ihnen die Persönlichkeit des anderen anzunehmen gelernt hatte. Dann war Respekt die Basis, die Säule des Zusammenlebens geworden. Das Band ihrer Ehe hieß gegenseitiges Verständnis und Liebe. Später, als der Job als „semi-tired“ bezeichnet wurde, war es zwischen den beiden ruhiger geworden. Sie reisten viel, konnten kulturelle Veranstaltungen gemeinsam wahrnehmen. Das Interesse im geistigen und kulturellen Bereich bekam nun eine neue Bedeutung und hatte ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl stabilisiert. So war es durchaus nicht selten, dass Wanda am Samstagvormittag meinte, man könne doch mal eben nach Zürich fahren. Oder ein Wochenende am Genfer See verbringen. Brüssel bezaubert durch sein kulturelles Angebot und war nur eine Tagesreise entfernt. Und Brügge mit dem alten Markt, den hübschen Fachwerkhäusern, deren Giebeln ihr Gesicht dem alten Marktplatz zuwenden und an eine zeitüberdauernde Geschichte erinnern, die eine heimelige Atmosphäre verbreitet. Die Kathedrale bildet den Mittelpunkt des Marktes. In hübschen Boutiquen kann man hin und wieder ein Unikat entdecken. Bis zum Meer nach Knogge ist es nicht mehr weit.
Ob Jacob wohl diese Kurzreisen ebenso gemocht hatte wie sie? Ganz plötzlich kommen ihr diese Gedanken. Nie zuvor hat sie sich diese Frage gestellt. Sicher ist es unrealistisch, heute dieser Frage nachzugehen. Es bringt ihr kein gutes Gefühl.
Wanda steht auf. Sie will die Gedanken beenden. Sie geht zum Schrank und holt einen bunten Geschenkkarton heraus. Genau gesagt, handelt es sich um einen roten Schuhkarton. Edle, silberfarbene Satinschuhe hatte sie lange darin aufbewahrt. Als sie Königin gewesen war, im langen silberschimmernden Seidenkleid – dessen Rockweite sieben Meter betrug – hatte sie diese Schuhe getragen. Damals hatte Jacob bei der Schützenbruderschaft von 1545 die Königswürde erschossen. Eine Bruderschaft, die sich mit Stolz ihrer langjährigen Tradition bewusst war, deren Regeln minutiös und diszipliniert befolgt und gewissenhaft pflegend präsentierte. Mit vierunddreißig Jahren war sie für zwei Jahre Jacobs Königin, eine für die Männerbruderschaft ungewöhnlich junge Königin, geworden.
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