Sie war am Rande des Untergangs. Es würde ums Überleben gehen. Sie schleppte sich einige Schritte weiter und klammerte sich an die Lehne des dort stehenden schweren Eichenstuhls.
Sie starrte aus der großen Glasfront ihres Hauses.
Gemeinsam gebaut. Keine Bedeutung mehr. Unterhalb die Ortschaft in der Dunkelheit. Kein Stern war zu sehen. Es kam die schwarze Nacht. Sie löste sich mühsam, fast mechanisch. Dann ging sie wie von unsichtbarer Regie geführt blicklos an ihm vorbei. Ihre Schritte klangen laut und hart auf den Stufen nach unten. Er kam hinter ihr her, wollte sie besänftigen.
In dieser Nacht hatte sie ihm Koffer und Aktentasche vor die Tür gestellt. „Reise ab. Sofort. Heute Abend noch“, hatte sie fast tonlos gesagt.
Wie leblos schritt sie ins Haus zurück und schloss mehrfach hinter sich ab, während er nur leicht bekleidet mit ungläubigem Staunen draußen bei den Koffern stand und später in der Dunkelheit mit einem vorfahrenden Taxi verschwand. So muss es jedenfalls abgelaufen sein. Sie sah ihn nicht wieder.
Sie hatte sich in ihr Studio zurückgezogen und darauf, dass die Zeit verging. Doch die Zeit verging nicht. Katastrophen kennen keine Zeit. Sie rechnen anders.
Äußerlich war sie verstummt. Innerlich tobte die Verzweiflung in ihr, die Scham über die Selbsttäuschung, der Schmerz über die Demütigung, die Hoffnungslosigkeit. Es war ihr, als verliere sie ihr Leben und als warte in der Ecke nur der Tod. Es war, als würde ihr Mann, ihr Beschützer, ihr Gefährte, der langjährige Vertraute all ihre Lebendigkeit mit sich nehmen und als könne sie nicht leben ohne ihn und mit ihm auch nicht mehr. „Das ist das Ende“, sprach sie.
Das Haus war leer und still geworden. Wenn sie früher alleine gewesen war, spürte sie die Leere nicht, denn sie war immer innerlich zu zweit. Ihr Mann würde bald kommen, oder am Abend kommen, oder in zwei Tagen, oder in einer Woche.
Das Haus sprach mit ihr, die Bilder sprachen mit ihr. Die Stadt sprach mit ihr und sie mit der Stadt.
Sie war ausgefüllt gewesen.
Die Ergänzungen in einem Eheleben,
die Ansprüche aneinander,
Hoffnungen, Wünsche,
die Selbsttäuschung,
die Bedürftigkeit.
War sie nur ausgefüllt gewesen durch ihn?
Wer war sie?
Sie spürte in sich nur das Nichts und die gähnende Leere. Sie flüchtete nach draußen. Sie ging durch die Stadt und kam sich fremd vor. Hier lebte sie doch schon lange. Hier hatte sie sich einen Bekanntheitsgrad geschaffen. Hier war sie im kulturellen Leben anerkannt. Es hatte ihr immer genügt.
Sie war eitel gewesen.
Sie wusste, wie stolz er auf ihre Schönheit war.
Sie spürte den eleganten Hut auf ihrem Haupt und die Krempe, die ihre Wange streifte. Sie war etwas Besonderes hier durch ihren Hut. Mal in Blau, mal in Gelb, mal mit Feder, mit Schleier, ohne Schleier.
Doch irgendwie war alles schal geworden.
„Oberflächlich“, entschied sie für sich.
Das waren ihre Beziehungen.
Sie hatte mehr gewollt. Sie hatte einmal das Schicksal bezwingen wollen. Sie hatte alles von ihm verlangt und war doch nur eine bürgerliche Existenz eingegangen. Kleinbürgerlich fast.
Sie hatte versagt. Sie hatte sich verraten. Sie hatte um ein Glück gebuhlt, das sie abhängig machte. Sie hatte ihr Leben an ein anderes gefesselt.
Doch sie war es immer noch, sie, Charlotte B., ihr Blut floss in ihr weiter und es floss nicht von selbst.
Wo war das Herz, dass das Blut immer noch durch ihren Körper pumpte, das ihre erstarrten Hände wärmte? Sie musste angekoppelt sein an einen anderen Kreislauf, denn sie fühlte nur einen Stein, wo sonst das Herz schlug. Starthilfe, tägliche, brauchte sie sozusagen. Eine Nabelschnur, die sie ernährte. Sie hatte sich zu sehr gewöhnt an die tägliche Gemeinsamkeit, an das Schlafen miteinander, an die Nächte Haut an Haut, an die Tage mit den ineinander verwobenen Seelen.
Sie brauchte die Hand, die ihr fürsorglich unter den Arm griff, die Geborgenheit, den Beschützer. Hatte sie den Geliebten mit dem Beschützer und dem Vater verwechselt? Sie nahm Goethes „Wilhelm Meister“ hervor und las das Lied der Mignon, noch einmal und noch einmal, und die Schönheit seiner Sprache wurde ihr bewusst und tröstete sie. Sterben an gebrochenem Herzen?
Sie wollte leben, aber wozu?
Sie lief in den Wald hinter dem Haus und irrte dort ziellos herum. Manchmal auch nachts. Stundenlang lief sie die alten Wege.
Manchmal erkannte sie nicht mehr, wo sie sich befand. Doch irgendwie kehrte sie immer zum Ausgangspunkt zurück: am Holzhaus mit den roten Fensterläden vorbei, das seit Neuestem einem ihr unbekannten Maler gehörte, der im Rollstuhl saß, an der weißen, hinter Bäumen versteckten Villa, die einer Fabrikantenfamilie aus der Hauptstadt gehörte und nur selten bewohnt war, bis hin zu ihrem Zuhause am Rande des Waldes, mit der Glasfront zum Tal, dessen Eingang auf vier gelben Säulen stand, ein modern anmutendes, helles, freundliches Gebäude mit wildem Garten und exotischen Gewächsen umgeben. Es war einmal ihr Zuhause gewesen. Jetzt war es nur noch irgendein Haus.
Sie dachte an nichts.
Sie ging nicht ans Telefon.
Sie rief niemanden an.
Was sie aß und trank, wusste sie nicht.
Die Post sammelte sich auf der Truhe. Die Haushaltshilfe, die einmal wöchentlich kam, bestellte sie ab. Das Haus begann zu verwildern.
Sie lebte von den Vorräten, bis sie verbraucht waren. Sie duschte und wusch sich die Haare nur noch sporadisch. Sie stand manchmal vor dem Schrank mit ihren Hüten und erschrak. Das war einmal sie selbst gewesen?
Sie nahm das Geschmeide in die Hand, die Ringe und Perlenketten, und ließ sie wieder in die samtene Box gleiten. Alles dies brauchte sie nicht mehr.
Diese Zeit war vorbei.
Irgendwann war Charlotte ergraut. Fixiert auf den Schmerz der Trennung, hätte der Tod selbst, der Menschen auseinanderreißt, nicht schlimmer sein können. Ja, seinen Tod hätte sie ertragen, aber dass sie ihn an eine andere Frau verloren hatte, das war der Grund der Verzweiflung. Sie sehnte sich nach Liebe, mehr denn je, und gerade sie wurde ihr plötzlich versagt. Sie würde ihr auch den Rest des Lebens versagt bleiben: Niemals würde es werden wie zuvor, niemanden würde sie jemals wieder lieben, es war aus mit der Liebe. So dachte sie. So fühlte sie. Das war ihre Trauer. Der Mensch kann ohne Liebe nicht hoffen. So wusste sie nicht, wie es mit ihr weitergehen sollte.
Bei den Gemälden blieb sie ab und zu stehen.
Die Farben und Formen drangen für einen Moment in ihr Inneres. Dann wanderte sie wieder weiter durch das Haus oder durch Feld und Wald, und sie spürte nichts als Unglück, während ihre Beine schwer wurden und schleppend. Zwischenzeitlich saß sie im Lehnstuhl ihres Studios.
Sie starrte auf den Ort, in dem die Menschen sie zu vermissen begannen und sich Sorgen um sie machten. Das Gerücht um die Trennung von ihrem Mann hatte längst Kreise gezogen.
Charlotte aber verharrte lange in der Trauer. Zu lange, wie sie später meinte. Trotzdem begann eine allmähliche Veränderung.
Nach Monaten, in denen sie abgemagert war, begann es ihr wieder zu schmecken, und sie bestellte sich erstmals Delikatessen, die sie mit einem Glas Wein am Abend alleine genoss. Aus dem Glas Wein wurde mit der Zeit manchmal auch eine ganze Flasche oder mehr. Doch es war trotzdem der erste Weg zu sich selbst: sie begann, die Abende unabhängig zu genießen, für sich alleine. Auch, wenn sie das rechte Maß verlor.
Sie bestellte den Friseur und ließ sich die Haare so kurz abschneiden, dass sie aussah wie eine buddhistische Nonne. Den Sinn des Lebens aber suchte sie nicht.
Sie begann auch wieder, wie früher in ihrer Jugend, rauschhaft Bücher zu verschlingen. Sie ließ sich dicke Romane aus der Buchhandlung kommen. Sie entdeckte die letzten Neuerscheinungen und las sich in fremde Kulturen und fremde Biographien ein, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Die Welt wurde plötzlich ein weiter Raum. Sie mied aber nach wie vor die Gesellschaft ihrer Mitmenschen und erledigte nur widerwillig die anfallende Post.
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