Paula erkannte sie zunächst nicht. Sie sah völlig verändert aus. Erschrocken blieb Paula stehen und blickte ihr nach, während Charlotte B., ohne ihre Augen zu heben, an ihr vorbei in entgegengesetzter Richtung verschwand. Paula konnte die drastische Veränderung kaum fassen. Sie erschien ihr wie eine andere, völlig fremde Person.
Hatte Paula sich getäuscht?
Gebannt hatte Paula noch lange hinter Charlotte hergeschaut. Ihr dunkles Haar war ergraut und hing in Strähnen um ihr Gesicht, ihr Körper war dicklich geworden und in grobe und sackähnliche Kleidung gehüllt. Paula lauschte ihren schweren Schritten mit den plumpen Schnürschuhen hinterher.
Wo waren die krokodilledernen Stöckelschuhe oder Lackschuhe geblieben, die Paula immer an ihr bewundert hatte? Wo war der grazile Gang? Noch nie hatte Paula eine solch abrupte Veränderung an einem Menschen wahrgenommen.
Der Verlust jeglicher Eleganz, die Paula früher an ihr so bewundert hatte, die plötzliche Unförmigkeit ihres ehemals schlanken Körpers, die nach außen sichtbare Wesensveränderung eines hoch ästhetischen Menschen in eine grobe und derbe Gestalt hatten Paula verwirrt.
Sie war langsam in der Dämmerung nach Hause gegangen. Der Schreck saß ihr noch in den Knochen. Der Eindruck von Tragik und von selbstzerstörerischem Trotz ließ Paula nicht los. Sie trank einen Cognac und noch einen zweiten und grübelte darüber nach, was die Ursache für diese Verwandlung gewesen sein konnte.
Sie rief eine Freundin an. Sie kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass es auf keinen Fall die Abschiedsszene im Kunstverein oder das Lachen wegen des Hutes gewesen sein konnten. Es musste andere, noch tiefer liegende Gründe geben.
War sie erkrankt?
Nahm sie starke Medikamente?
Trank sie Alkohol? Hatte sie einen Klinikaufenthalt hinter sich? Eine psychische Krise? Und wo war ihr Ehemann? Man sah ihn nicht mehr.
Umso häufiger begegnete Paula jetzt Charlotte wieder auf den Straßen und jedes Mal erschrak Paula über die immer gleichbleibende Veränderung: in Säcke gehüllt, das Haupt grau wie mit Asche bedeckt, in alter und abgetragener Kleidung, die aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammen musste stapfte sie durch den Ort.
Sie ging jedes Mal mit gesenktem Blick ihren Weg.
Manchmal nur sah sie kurz auf, um notdürftig zu grüßen. Aber ihre Augen fixierten unverzüglich Sekunden später wieder den Straßenboden, dass Paula nicht wagte, sie anzusprechen.
So war das nun eine geraume Zeit: Paula sah sie, erschrak, murmelte einen Gruß, wartete, ob sie kurz stehen blieb, ja lauerte darauf, bedauerte, dass sich keine Gelegenheit des Gesprächs ergab, grübelte ihr nach und vergaß sie wieder – bis zur nächsten Begegnung. Den Ehemann sah man gar nicht mehr. Er blieb verschwunden.
Nun gingen auch die Gerüchte im Ort umher, brodelten und kochten über. Sie habe ihren Mann in einem lauten und wilden Anfall der Verzweiflung aus dem Haus geworfen.
Das Haus gehöre ihr allein.
Erbe ihrer reichen Familie.
Hinter ihren Türen verwalte sie weiter ihre wertvollsten Kunstschätze und Sammlungen.
Sie habe ihn samt seinen Koffern und der Aktentasche vor die Tür gesetzt, ausgesperrt, ihm bei Nacht und Nebel die Kleidung aus dem Fenster nachgeworfen: Anzüge, Hemden, Schuhe und Socken. Er solle nie mehr das Haus betreten.
Er habe frierend bei sternklarem Himmel vor der Tür gestanden und sie um Einlass gebeten, dann seine restlichen Sachen soweit als möglich in die Koffer verstaut, sei eine knappe Stunde später in ein Taxi gestiegen und nie mehr im Ort gesehen worden. Lebe jetzt wahrscheinlich in der Toskana oder in Sizilien oder auf Gran Canaria, vermutete man. Mit einer Geliebten, einer jungen Studentin von vierundzwanzig Jahren.
Von dem heimlichen Skandal, der erst spät ans Licht getreten war, vor allem, wie er sich zugetragen hatte, erzählte man lange hinter vorgehaltener Hand.
Paula war in dieser Zeit zu sehr beschäftigt gewesen, sodass es dauerte, bis ihr die Geschichte zu Ohren kam.
Ja, ihr Mann beabsichtige mittlerweile, sich wieder neu zu binden, erzählte ein Bekannter im Ort, mit dem er hin und wieder telefonierte, um letzte Formalitäten zu erledigen.
Solche Gespräche gingen um, besonders, weil die Beiden zuvor als leuchtendes Beispiel der Liebe galten. Man bedauerte Charlotte. Man sah, dass sie nicht mehr auf die Beine kam. Immer noch war sie am Boden zerstört.
Sie ließ keine hilfreichen Hände oder tröstenden Worte an sich heran. Sie verwehrte das ihr entgegen gebrachte Mitgefühl. Sie umging jede Konversation. Sie besuchte weder den Kulturkreis im Ort, noch nahm sie an anderen öffentlichen Ereignissen teil. Doch es umgab sie so etwas wie eine Aura ergreifender Größe und Wahrhaftigkeit. Ihr Äußeres offenbarte ihren inneren Zustand. Sie verbarg ihn nicht. Dies blieb über längere Zeit bestehen und veränderte sich nicht – bis zu jenem klassischen Konzert, das unter Organisation und Beteiligung des Kunstforums aufgeführt wurde.
Man hatte den Liederzyklus von Schumann eingeübt, einen bekannten Pianisten und eine junge Sopranistin engagiert sowie eine Auswahl getroffen.
Dazu gehörte unter anderem das Lied „MIGNON“, das Charlotte damals in einen Zustand von Ergriffenheit versetzt hatte und nun Paula mit ihrer schönen Altstimme singen sollte.
Die Musiker, eingeschlossen Paula, gaben bei dem Konzert ihr Bestes und erhielten entsprechend begeistert Beifall, bevor sie sich mit Blumensträußen in die Garderobe zurückzogen. Dort wartete Charlotte. Vor allem wartete sie auf Paula.
Schwerfällig und steif ließ sie sich in dem Sessel nieder, den man ihr anbot. Einen Augenblick saß sie schweigend dort, bis ihr ein leises, gebrochenes Dankeschön über die Lippen kam.
Sie bedankte sich für das wiederentdeckte Glück, das Geschenk des Abends. Das Konzert habe es ihr ermöglicht, wieder in eine schönere Welt zurückzukehren Eine innere Veränderung sei eingetreten. Sie wisse noch nichts Genaues damit anzufangen. Aber vielleicht bewirke der Abend ein Wunder. Vielleicht wolle sie es noch mal mit dem Leben versuchen.
Sie habe heute erst gemerkt, welche Kräfte in ihr schlummerten und dass sie sich von der maßlosen Enttäuschung, die ihr widerfahren sei, jetzt würde verabschieden können. Die Worte kamen noch mühsam über ihre Lippen, ungewohnt.
Paula umarmte sie herzlich und lud sie zu einem Besuch ein. Sie kam wirklich. Von da an erzählte sie. Sie vertraute sich wieder an. Von da an begann auch ihre Freundschaft.
***
Es hatte in ihrer Ehe wohl schleichend begonnen.
Sie spürte es, wie man eine Wetteränderung wahrnimmt: bevor der Föhn einsetzt und die Kopfschmerzen beginnen. Oder wenn ein Orkan sich ankündigt und Gliederreißen auslöst, oder der Herzrhythmus aus dem Takt gerät. Sie spürte eine Veränderung bei sich und ihrem Mann, schon bevor seine Offenbarung ihrer langjährigen und bewährten Beziehung ein Ende setzte. Ein abruptes Ende, kann man wohl sagen.
Das Geständnis fand in einer kalten Winternacht statt, nachdem sie wie üblich gemeinsam ihren Rotwein getrunken hatten. Sie wusste nur, dass sie langsam aufgestanden und bis in die Mitte des Zimmers gegangen war. Dort blieb sie stehen.
Versteinert. Gebannt an diese eine Stelle: diese braune Steinfliese, quadratisch, vierzig mal vierzig Zentimeter groß. Dort muss sie längere Zeit gestanden haben.
Inmitten des großen Raumes, umgeben von kostbaren Teppichen und der noch kostbareren Gemäldesammlung war sie minutenlang zur Salzsäule erstarrt wie Lots Frau im Alten Testament, die verbotenerweise in die Ereignisse des Schreckens zurückblickte.
Zunächst verstand sie nicht.
In ihren Ohren war ein Dröhnen und Rauschen.
Die Erde schwankte, als stürzten jeden Moment die Tempel und Kathedralen sowie die Mauern ihres Hauses ein. Eine Katastrophe war hereingebrochen, so viel hatte sie begriffen.
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