Wie kaum ein anderer Pianist verlieh er seinen Interpretationen eine individuelle Note. Dabei fesselten sein poetisches Spiel und sein weicher Anschlag noch mehr als seine Virtuosität. Ganz zum Schluss seines Lebens schickte der Maestro seine Schüler aus, um an Orten, die sich seine Kunst nicht leisten konnten, nach Sälen zu suchen, in denen er spielen wollte. Nicht mehr die Carnegie Hall, nicht mehr der Goldene Saal des Wiener Musikvereins waren seine bevorzugten Plätze, sondern Orte wie der Festsaal des Bildungshauses St. Georgen am Längsee, der nie zuvor solche Musik erlebt hat und wohl auch niemals nachher erleben wird können. Die spielerische Leichtigkeit und Innigkeit, mit der der Maestro damals Chopins Etüden spielte, bleibt mir in herzlicher Erinnerung, ebenso das Gespräch mit ihm im Künstlerzimmer. Nie zuvor hätte ich gedacht, wie sehr ein so großer Künstler sich über die kleinen und scheuen Wortspenden der musikalisch nicht sehr gebildeten Konzertbesucher freuen konnte. Unvergessen auch das gemeinsame Abendessen nach dem Konzert im Restaurant Bachler in Treibach-Althofen. Nach dem ersten Löffel seiner Gorgonzolarahmsuppe ruft der Maestro aus: „Diese Suppe ist ein Traum!“ Das Gästebuch des Restaurants belegt unser Abendessen dort durch die Eintragung vom 15. 2. 1989 „mit besten Wünschen“, und Kazuto Osato, Richters legendärer Klavierstimmer, fügte auf Japanisch hinzu: „Danke für das wunderbare Mahl!“
Kurt Marti (1921–2017) besucht mit Friedrich Dürrenmatt das Freie Gymnasium Bern. Der Sohn eines Notars folgt zunächst dem Weg des Vaters und studiert zwei Semester an der juristischen Fakultät der Universität Bern, bevor er sich für ein Studium der evangelischen Theologie entscheidet. Zunächst beginnt er damit an der Universität in Bern und setzt es dann 1945 bis 1946 an der Universität Basel fort, wo sein theologisches Denken besonders von Karl Barth geprägt wird.
In den Jahren 1947 bis 1948 ist Marti ein Jahr lang Kriegsgefangenenseelsorger in Paris. Nach seinem Hochschulabschluss und der Ordination wird er Pfarrer im bernischen Rohrbach und 1949 Pfarrer in Lemiswil. 1950 heiratet er Hanni Morgenthaler, mit der er drei Söhne und eine Tochter hat. Von 1950 bis 1960 ist Marti Pfarrer in Niederlenz. In dieser Zeit beginnt er Zeitungsartikel, Gedichte und Geschichten zu schreiben, auch um, wie er mir selbst erzählte, dadurch einer Midlife-Crisis zu entgehen. Von 1961 bis 1983 ist Kurt Marti Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Als aktiver Teil der deutschen Friedensbewegung engagiert er sich im Kampf gegen Atomwaffen, Atomkraftwerke und die US-Intervention in Vietnam. In dieser Zeit lernt er auch Dorothee Sölle kennen, die neben Karl Barth wohl zu den wichtigsten Menschen gehört, ihn nachhaltig beeinflussen. 1972 verweigert ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bern. Marti empfindet diese Ablehnung als „Auszeichnung“ sowie als Bestätigung dafür, dass sein sozialpolitisches Engagement richtig ist. In der ihm in der Folge von der Universität verliehenen Ehrendoktorwürde sieht Marti genüsslich ein Schuldeingeständnis.
Im Jahre 1991 besuche ich das Ehepaar Marti in Bern, um mit Kurt Marti in seinem Haus ein Interview für die Kärntner Kirchenzeitung zu führen. Die Herzlichkeit, mit der ich dort aufgenommen werde, überwältigt mich. Unser Interview ist schnell erledigt, das daran anschließende persönliche Gespräch dauert bis spät in den Abend hinein. Kurt Marti erzählt mir von der Zeit, in der er so alt war, wie ich jetzt, und welche Strategien er damals gegen die Midlife-Crisis fand. Dabei wachsen mir Flügel und ich fasse mir ein Herz, diesen beiden wunderbaren Menschen über meine bisher geheimen Pläne zu erzählen, den kirchlichen Dienst in Richtung weltliche Seelsorge zu verlassen. Frau Marti fragt genau nach, lädt mich ein, genauer von meinen Plänen und den damit verbundenen Ängsten zu reden, um mir dann zu sagen: „Nur Mut, es kann Ihnen nichts passieren! Vor Ihnen liegt ein wunderbarer Weg!“ Sie sollte recht behalten.
Kurt Martis vielleicht bekanntestes Buch sind seine „Leichenreden“ – „Nekrologe jenseits aller Abdankungsrhetorik“, wie Manfred Papst im Vorspann schreibt. Papst ist davon überzeugt, dass bei der Lektüre nicht nur ein lügengeplagter Pfarrer, sondern auch eine an offenen Gräbern immer noch zu findende lügengeplagte Sprache aufatmen könne. Ein solches Aufatmen kann auf Verlegenheitsfloskeln verzichten, die sich am offenen Grab in allzu billiges Trösten flüchten:
dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
dass einige von euch dachten
es habe ihm solches gefallen
im namen dessen der tote erweckte
im namen des toten der auferstand:
wir protestieren gegen den tod … 4
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„Das kriege ich auf keine Bühne“
Ich war neun Jahre Seelsorger in Klein St. Paul, einer kleinen Industriegemeinde in Kärnten. Eines Freitagabends ruft mich der Direktor des „Berliner Ensembles“, vormals Direktor des Wiener Burgtheaters, Claus Peymann, an und erkundigt sich nach den „Beginnzeiten meiner Wochenendvorstellungen“, verbunden mit dem Ansinnen, am kommenden Sonntag den Pfarrgottesdienst besuchen zu wollen. Um einem Theaterdirektor auch eine würdige „Vorstellung“ bieten zu können, bereite ich mich gründlicher als sonst auf meine Predigt vor. Tatsächlich erhalte ich (wie ich zunächst dachte, gerade dafür) von meinem liturgischen Gast auch ein fachmännisches Lob: „Was ich heute hier erlebt habe, kriege ich auf keine Bühne!“
Sichtlich bewegt von der gemeinsamen liturgischen Feier lädt mich Peymann zum Mittagessen ein, um mir dort nach mehrstündigen Gesprächen zu erklären, worauf sich das Lob des großen Theatermachers bezieht. Was den Meister der Dramaturgie so beeindruckt hatte, war nicht die gründlich vorbereitete Predigt und auch nicht der an diesem Tag ganz bewusst eingesetzte liturgische Gesang des Zelebranten oder sonstige bemerkenswerte liturgische Details vom Glockenklang über Chorgesang bis hin zum dampfenden Weihrauchfass. Nein, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Moment der Wandlung, jenem kurzen Augenblick, in dem der Zelebrant eine unscheinbare Scheibe ungesäuerten Brotes in völliger Stille zum Himmel emporhebt. Dieser winzige Augenblick völliger Stille in einer kleinen Dorfkirche am Rande der Welt hatte es vermocht, einen routinierten, weltmännisch verwöhnten Theaterprofi für einen Moment außer sich und buchstäblich sprachlos sein zu lassen.
Dieses Ereignis liegt nun schon bald zwanzig Jahre zurück. Inzwischen habe ich mein Priesteramt gegen das eines Psychotherapeuten eingetauscht. Geblieben aber ist mir eine ständig wachsende Leidenschaft für genau das, worum es damals in Klein St. Paul und in ungezählten anderen Momenten meines Lebens gegangen ist: Um erfüllte Stille, in der sich innere Wandlung vollzieht! Momente des Berührt-Werdens und Angerührt-Seins, in denen ich so da sein kann, dass ich davon „ganz weg“ bin.
In solchen Momenten wird der Alltag zum Erlebnis: Aus Brot und Wein wird Kraft und Freude, aus dem Alltag der Augenblick, aus der Gewohnheit die Innigkeit, aus Wiederholung Einmaligkeit, aus Routine innere Berührung, aus der Reprise eine Weltpremiere. Seit jener Begegnung mit Claus Peymann weiß ich: Die Vermittlung spiritueller Erfahrung und deren Vertiefung hat keine Berufsgruppe für sich allein gepachtet, so wie auch die spirituelle Erfahrung selbst kein Vorrecht für religiöse Gemeinschaften bleibt.
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Margarete Mitscherlich
Margarete Mitscherlich (1917–2012) war eine der bedeutendsten Psychoanalytikerinnen Deutschlands. Nach dem Studium der Literatur und der Medizin arbeitete sie als Ärztin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und begründete gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich das „Sigmund-Freud-Institut“ in Frankfurt am Main. In den letzten Jahrzehnten hat sie sich mit der, wie sie es selber nennt: „Mühsal der Emanzipation“, beschäftigt. Mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann im Jahr 1967 eine Diskussion über Schuld und Mitschuld an den politischen Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus entfacht.
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