Sogar ein Brief des Präsidenten von Nizza wurde verlesen, der mir das Zeugnis gab, eine sehr ehrenwerte Dame zu sein, die stets unter seinem Schutze gestanden habe. Mein Lebenswandel sei tugendhaft gewesen, meinte dieser. Lediglich der deutsche Konsul verwechselte mich, aus Gefälligkeit für die Familie meines Mannes, mit jener in Nizza lebenden Frau von Lützow, die gut meine Großmutter sein könnte.
Hör mir gut zu, was ich dir jetzt erzähle! Du wirst es nicht glauben! Unter allgemeiner Anspannung erschien dann der Herr Pfarrer. Seine Knie schlotterten, man sah seinem Munde an, dass er betete! Oh, welch eine erbärmliche Rolle spielte dieser Mann, dachte ich mir. Trotz des Protests meines Verteidigers wurde der Pfarrer vereidigt. Der Mann hatte vom Anwalt meiner Schwiegereltern ganz bestimmte Instruktionen bekommen, dies erzählte er selbst. In der Aufregung aber hatte er alles wieder vergessen. Er sagte aus, eine ordnungsgemäße Trauung vorgenommen zu haben. Dies sagten auch alle anderen Zeugen aus. Ja, sollten wir denn die Leute zu einem Hokuspokus in der Kirche und nachfolgendem guten Diner einladen? Die Leute zu täuschen, war ja der Zweck der Übung. Aber er musste eingestehen, ein Dokument verfasst zu haben, dass er „in Form einer Hochzeit ein feierliches Eheverlöbnis vornehme und diese Ehe vor dem Gesetze keine Gültigkeit habe“. Er habe dieses Dokument unter der Amtsgewalt seines politischen Chefs verfertigt, respektive es unterschrieben. Der Verfasser sei der Herr Bezirkshauptmann gewesen, der ihm gedroht habe, mit seiner Braut zum evangelischen Pfarrer zu gehen und zum protestantischen Glauben überzutreten, falls er ihn nicht trauen würde!
Und ich werde dafür fünf Monate eingesperrt! Die Anklage auf Betrug wurde „leider“ fallen gelassen, denn die Geschädigten wollten sich nun einmal, trotz aller Bitten, nicht melden! Die einzige Geschädigte aber war ich selber, nur glaubte man es mir nicht! Entschuldige, wie du siehst, übermannt mich wieder der Zorn. Es ist heute noch schwer, davon zu reden. Du wirst mir bestätigen, dass auch ein weniger einfältiger Mann als es der Herr Pfarrer ist, stutzig geworden wäre, wenn jemand eine „Trauung“ von ihm verlangt und sich anstatt des Trauscheines ein Dokument hätte ausstellen lassen, wonach diese Trauung nur ein „Eheverlöbnis“ sei und nur in Form einer „Hochzeit“ vorgenommen werde, um dem Brautpaar ein Zusammenleben zu ermöglichen, „doch hat diese Ehe vor dem Gesetze keine Gültigkeit!“ Dies hat nun aber, zugegebenermaßen, mein Mann mit dem Pfarrer gemacht und ich komme dafür ins Gefängnis. Und mein Mann und der Pfarrer sollen nicht gewusst haben, dass ich noch gebunden bin? Mein Mann, der den Anwalt, der nur meine Scheidung führt, um Beschleunigung bittet, weil der Pfarrer wartet, und er später seinen Urlaub, der Hofjagden wegen, erhält. Der soll es nicht gewusst haben? Dann bekommt mein Mann vom Anwalt aus Trier das Telegramm: „Ehe gelöst“, geht damit zum Pfarrer und gibt es ihm. Als ich diesen Erleuchteten bei der Verhandlung fragte, was er sich dabei gedacht habe, sagte der Mann, er habe das Telegramm auf meine zweite Ehe mit dem Herrn Baron Lützow bezogen. Der Herr Pfarrer hatte das Scheidungsdekret dieser Ehe, die 1894 getrennt worden war, seit einem Jahr in seinem Schreibtisch! Warte einen Moment, ich muss dir etwas zeigen. Schau mal, wenn du Zeit hast, lies diesen Text vom 10. November 1904 von Karl Kraus, dem geistreichen Herausgeber dieses Heftchens. Er hat in seinem Artikel „Der Hexenprozess in Leoben“ ein charakteristisches Bild der Verhandlung gegeben.
Warum ich trotzdem eingesperrt wurde, willst du wissen? … Das ist ganz einfach zu beantworten. Mein Verteidiger war leider keine Kämpfernatur, zu anständig für die Leobener Verhältnisse, die ihn auch in der ganzen Äußerung seiner Meinung behindert haben. Hätte in meinem Fall ein anderer Verteidiger Mitspracherecht gehabt, wäre ich mit Sicherheit freigesprochen worden. Davon bin ich fest überzeugt!
Was meinen Mann betrifft, hat er sein Leben weggeworfen! Weshalb? Weil er, als er so allein in unserer Wohnung zurückblieb, sich seiner armen Hilflosigkeit und Verlassenheit bewusst wurde; dazu kam noch das quälende Gefühl, an mir ein Unrecht begangen zu haben. Unser ganzes, großes, verlorenes Glück stand vor seinen Augen. Ja, ich hätte anders gehandelt! Nicht von seiner Seite wäre ich gewichen, ich wäre ihm in Not und Tod, ja selbst in die Schande gefolgt! Ich hätte mich vor seine Kerkertür gesetzt und keine Macht der Welt hätte mich fortgebracht. Unausgesetzt hätte ich ihn mit meiner Liebe getröstet, ihm Mut zugesprochen. Das Totschießen hätte immer noch Zeit gehabt, glaub mir!
Warum ich wieder geheiratet habe? … Ich sehe, du verstehst es nicht. Es ist auch nicht leicht zu erklären. Nach meiner Haft konnte ich nur staunen, manchmal habe ich sogar eine Gänsehaut bekommen. Weshalb? … Wie zugetan mir die Leute plötzlich waren, wie sie mein unsagbares Leid erschütterte. Unzählige Briefe erreichten mich, in denen mir das tiefste Mitgefühl ausgedrückt wurde oder sich die Menschen nach meiner Gesundheit erkundigten. Hatten doch etliche Zeitungen ausführlich über diese Justizungerechtigkeit mir gegenüber berichtet. Du kannst mir glauben, nicht umsonst hat mich der Kaiser mit einer beachtlichen Summe dafür entschädigt. Er war bemüht, die leidige Sache aus der Welt zu schaffen, die sich wie ein dunkler Schatten über sein graues Beamtentum legte, und begnadigte mich. Werde nicht ungeduldig, ich erzähle ja gleich, warum ich wieder geheiratet habe! Ein Mann war mir in dieser schweren Zeit besonders gut gesonnen, er schrieb mir fast täglich Briefe, in denen er mir sein Verständnis kundtat und seine Hilfe anbot. Anfangs war ich etwas verwirrt, warum gerade mir ein Unbekannter ein guter Freund sein wollte. Doch meine tragische Geschichte hatte sein Herz berührt. „Nur nicht verzagen, Kopf hoch. Sie haben nichts Strafbares begangen. Ich bin Ihnen, was auch immer kommen möge, ob gut oder nicht gut – treu ergeben, denn in meinen Augen sind Sie das Opfer“, waren seine Worte. Ich streckte ihm meine Hand entgegen und nahm dankbarst seine selbstlose Hilfe an, die ich sehr nötig hatte. Bislang war ich die Person gewesen, die ohne zu Fragen den armen Menschen geholfen, die ihre eigenen Bedürfnisse vergessen hatte und darüber ins bitterste Elend kam. Letztendlich habe ich in Herrn J. nicht nur einen Freund, sondern auch einen gewissenhaften Ratgeber gefunden. Er richtete mich in jeder Weise auf und versprach für mich zu kämpfen. Wehmütig und schwer ist es mir ums Herz, wenn ich daran denke. Es war ein Weihnachtsabend, an dem wohl der ärmste Mensch ein Anrecht auf irgendeine Freude hat. Vergessen und alleine saß ich in meinem Hotelzimmer und niemals ist mir meine Verlassenheit gegenwärtiger gewesen als an diesem trüben Abend. Den ganzen Tag quälte mich die Idee, meinem Dasein ein Ende zu machen. Trotzdem verspürte ich, dass noch so viel in mir lebte und ich wieder Glück säen und Frieden ernten wollte. Licht verbreiten im Dunkel von Not und Elend unserer Menschheit. Warum schenkte mir Gott so viel, wenn alles verkümmern sollte, gerade jetzt, wo alles reif geworden war? Ich ersehnte von Neuem den Sonnenschein des Glücks und spürte, dass mir dies mein geliebter Gatte bis in seinen Tod hinein gönnen würde. Plötzlich klopfte es zaghaft, fast überhörbar leise an meiner Hotelzimmertüre. Anfangs wollte ich in meiner Depression gar nicht öffnen, es sollte mich niemand in diesem schrecklichen Zustand sehen. Doch dann rief die Zimmerfrau, es sei ein liebenswerter Mann mit Blumen für mich da. So gut ich konnte, raffte ich mich auf und öffnete die Tür. Draußen stand Herr J. mit einem wunderschönen Strauß roter Rosen und einem verlegenen Lächeln im Gesicht. Und nicht nur das, er bat mich höflichst, ihn zu einem feierlichen Essen in ein kleines, vornehmes Lokal zu begleiten. Einerseits wollte ich ablehnen und auf der anderen Seite war mein trauriges Herz so berührt, dass es nicht nein sagen konnte. Bei Kerzenschein und einem Glas Wein war mir dieser liebenswürdige Mensch ein verständnisvoller Zuhörer. Das erste Mal konnte ich mir mein Leid von der Seele reden, ohne dabei nur einen Funken von Schuldgefühl zu verspüren, jemandem mit meiner Geschichte auf die Nerven zu gehen. Am selben Abend schlug er mir vor, ihn auf einer bevorstehenden Reise nach London zu begleiten, um mich abzulenken. Ein Ortswechsel würde mir sehr gut tun, meinte er mit fester Überzeugung. Zögernd sagte ich zu und zu Neujahr fuhren wir nach London, wo er mich dann aufrichtig um meine Hand bat. Ich konnte nicht nein sagen!
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