Ich weiß nicht, was meine Mutter, verwundet und verletzt, wie sie sein musste, geantwortet hat, sie muss aber auch bei ihm eine wunde Stelle berührt haben. Vielleicht schob sie ihm unter, dass ihm die Summe zu gering wäre.
Jedenfalls brach die Entrüstung meines Vaters ungehemmt und in einer nie gehörten Weise aus, die mich zittern machte. Man fühlte, wie sich jahrzehntelang verletzter Stolz aufbäumte und in Machtlosigkeit der Empörung überschlug. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen meiner Mutter und meinem Vater tat sich auf, von deren Vorhandensein in meine glückliche Daseinsform kaum der Schatten einer Vermutung gefallen war. Das Ganze war in einer langen Reihe von Punkten eine Anklage gegen die Familie meiner Mutter. Hauptsächlich warf er ihr Hochmut, Dünkel in jeder Form, Herzenskälte und was nicht noch alles vor. Am Ende des sich furchtbar steigernden Wortwechsels brach meine Mutter wieder in Tränen aus. Weinend warf sie dem Vater vor, er habe ihr vor der Hochzeit fest versprochen, den Gasthof zur Krone binnen höchstens zwei Jahren zu verkaufen. Er habe dieses Versprechen nicht eingelöst und sie diesem Moloch geopfert. Sie hasse das Haus, sie verfluche das Haus. Sie habe ihren Abscheu vor dem ganzen Gasthauswesen klar und deutlich ohne jeden Rückhalt ihm immer und lange vor der Ehe zum Ausdruck gebracht. Sie habe es sich aber lange nicht schlimm genug gedacht, es sei alles noch sehr viel schlimmer gekommen. Es habe ihre Liebe zerstört, ihre Ehe zerstört. Das wolle heißen: ihr Glück zerstört. »Oder«, fuhr sie dann immer weinend fort, »willst du behaupten, dass ein Familienleben in diesem Marterkasten möglich ist? Im Sommer stecke ich die Nase nicht aus der Küche heraus; sehe ich dich oder höre ich dich, ist es höchstens, wenn du mich oder jemand anders runterkanzelst. Du machst im Büro oder Salon den vornehmen Mann, und ich, angezogen wie eine Schlumpe, schäle in der Küche Kartoffeln oder pelle Schoten aus. Und wenn ich auf Ordnung halten will und die Leute, voran der Chef, mich angrobsen, gibst du nicht mir, sondern ihnen recht. Du speisest im Saal, Gerhart und Carl kriegen ihre Teller voll Essen in der Büfettstube. Ich sehe den ganzen Sommer keinen gedeckten Tisch« – meine Schwester Johanna war damals in einem Pensionat, mein Bruder Georg in Bunzlau auf der Realschule – »und im Winter ist es wie eben jetzt. Man hat sich den Sommer hindurch nicht einen Augenblick Ruhe gegönnt, bei dreißig Grad Hitze unter dem Glasdach der Küche halb tot geschunden, damit man im Winter schlaflose Nächte in Sorgen und Ängsten hat. Du sitzt mit Gustav im Büro, ihr schreibt, ihr rechnet, ihr rechnet und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rechnet und schreibt, ihr rechnet und schreibt die Schulden, die uns drücken, nicht weg und könnt die fälligen Zinsen nicht aufbringen. Dann nimmst du verstimmt mit mir und den Kindern dein bisschen Abendbrot und gehst mit Gustav in die Schenkstube. Du brauchst Zerstreuung, wie du sagst, ich bleibe allein in dem großen, zugigen, kalten Haus und mag sehen, wie ich mich mit meinen Gedanken, meinen Sorgen, meinen berechtigten Zukunftsängsten abfinde. Wenn du mich wenigstens einweihtest, aber du schweigst, du sagst mir nichts. Ich will deine Sorgen mit dir tragen, das Leben würde für mich viel leichter sein.«
Ich könnte von diesen Dingen nicht mehr sprechen, wie ich es heute kann, wenn ich sie damals nicht registriert hätte. Wie alt ein achtjähriger Knabe sein kann, ahnen im Allgemeinen erwachsene Menschen nicht. Was mich zunächst am tiefsten überraschte und schmerzte, war das Verhältnis der Mutter zu dem Hause, ohne das ich mich und die Welt nicht zu denken vermochte. Diese schönen Säle, Bilder und Zimmer, diese rätselhaften Kammern unterm Dach, diese Treppen, Korridore und tausendfältigen Schlupfwinkel, die Welt Unterm Saal, der hallende Tunnel, der von dort in den Hintergarten ging, die bemoosten Dächer, der Taubenschlag: der geradezu einzigartige, unübertreffliche Schauplatz meines Werdens, meiner Spiele, meines Lebens überhaupt sollte in Wahrheit ein wohl auch kinderfressender, glühender Moloch sein, der das Lebensglück meiner Mutter vernichtet hatte? Meine Mutter selber behauptete das.
Ihr das zu glauben, ihren unbegreiflichen Irrtum, ihre Blindheit diesem Paradiese gegenüber auch nur zu entschuldigen, war für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Und so stand ich auf Vaters Seite, als er sagte, dass nun einmal sein seliger Vater ihm dies Haus hinterlassen habe und er, selbst die Pietät gegen den mühsam errungenen Besitz seiner Eltern beiseitegesetzt, es keinesfalls gegen ein Butterbrot verschleudern könne.
Die peinliche Auseinandersetzung und ihre leidenschaftliche Maßlosigkeit kamen einem lokalen Erdbeben gleich, das den familiären Boden erschütterte. Niemals erlangte er mehr seine alte Festigkeit.
Mit diesen Erfahrungen war die Erkenntnis verknüpft, dass die selbstverständlichen Voraussetzungen meines bisherigen Daseins nicht durchaus standhielten. Mir gingen bestimmte Sätze und Worte meiner Mutter immer aufs neue durch den Sinn: »Du sitzt mit Gustav im Büro, ihr schreibt, ihr rechnet, ihr rechnet und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rechnet und schreibt, ihr rechnet und schreibt die Schulden, die uns drücken, nicht weg und könnt die fälligen Zinsen nicht aufbringen.«
Auch meinen Geschwistern waren die schweren Krisen zwischen Vater und Mutter nicht verborgen geblieben. Seltsamerweise nahmen wir für den Vater und gegen den Dachrödenshof Partei. Aus dem erregten Gemunkel von Johanna und Carl und gelegentlich hingeworfenen Worten der Mutter ging mir nach und nach, gegen mein Widerstreben, auf, dass noch andere Menschen als wir Eigentumsrechte auf den Gasthof zur Krone hatten, was mich aufs schmerzlichste traf und entrüstete.
Im grellen und peinlichen Lichte dieser Tage erklärte sich mir ein Besuch im vergangenen Jahr, der mich damals eitel Freude und Wonne dünkte. Ein reizendes Mädchen, Toni, siebzehnjährig, Halbschwester meines Vaters und Schwester Onkel Gustavs, der im Hause war, tauchte plötzlich bei uns auf, sie und ihre ältere Schwester. Sie hatte ein großes Glück gemacht, wie es hieß, da ein reicher Industrieller aus Remscheid um sie geworben und ihr Jawort erhalten hatte. Ich war sogleich in Toni verliebt und genoss eine Menge Zärtlichkeiten von ihr, wie sie ein übermütiges und glückberauschtes Kind an einen Siebenjährigen ohne Gefahr verschwenden kann. Als nach einigen Tagen der Bräutigam erschien, war die Stimmung gedämpfter geworden. Und kurz und gut, Mijnheer Soundso – er trug sich wie ein Holländer –, ein Eisen- und Stahlwarenfabrikant, hatte beschlossen, den Vermögensanteil seiner Braut und im Auftrag den der anderen Halbschwestern um jeden Preis aus dem Gasthof herauszuziehen, und ließ sich durchaus nicht davon abbringen.
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